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GASTKOMMENTARELetzter Appell an die Intellektuellen

■ Laßt uns mit Anstand von der Bühne deutscher Nachkriegsgeschichte gehen

Die Geschichte der bundesdeutschen Intellektuellen kann bald geschrieben werden, denn sie ist beinahe vorbei. Sie zeigt sich im Rückblick als dialektischer Prozeß, der durch Niederlagen gekennzeichnet war, die denn doch irgendwie zum Erfolg führten. Auf die verlorene Antinotstandskampagne folgte die in ihren kulturrevolutionären Aspekten siegreiche Studentenbewegung, auf die verlorene Antinachrüstungskampagne der Genscherismus und mit ihm das Ende des Kalten Krieges. Mit seinem Ende zerfielen die Gewißheiten ebenso wie die Solidaritäten: Golfkrieg und Bosnien entzweiten uns — in vielen Hinsichten wohl unwiderruflich. In diesen Konflikten, die weder der Bösartigkeit der Protagonisten noch der Dummheit der Streitenden geschuldet sind, kommt das zum Ausdruck, was der Philosoph John Rawls „the burdens of reason“ nennt: die Ambivalenz von Vernunft und Moral angesichts einer objektiv vieldeutigen Wirklichkeit. Aber nicht alles ist so vieldeutig wie die Lage am Golf und in Bosnien.

In diesen Wochen und Monaten werden wir Zeugen eines unter dem Druck der faschistischen Straße angestoßenen Entscheidungsprozesses in der SPD, deren Vorsitzender entschlossen das Erbe des antinationalsozialistischen Widerstandes, das universalistische Unterpfand der alten Bundesrepublik, den Asylparagraphen 16 des Grundgesetzes, durch Ergänzung abschaffen will. Im vollen Bewußtsein, daß dies an den realen Problemen nichts ändern wird, plant ein Teil der SPD den Rückmarsch ins nationalstaatlich bornierte Vaterland. In dieser Situation sollte uns, den bundesdeutschen Intellektuellen, bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten, etwa zwischen Bellizisten und Pazifisten, zwischen bedächtigen, strikt antinationalistischen Beobachtern des bosnischen Krieges und menschenrechtsorientierten Interventionisten, an einem geistigen Waffenstillstand gelegen sein. Wir sollten die Gelegenheit nicht verpassen, uns mit Anstand von der Bühne der deutschen Nachkriegsgeschichte zu verabschieden. Wie? Hier mein konkreter, wirklich ernstgemeinter Vorschlag: Damals, in Bonn, als es wider die Nachrüstung ging, waren wir 300.000, die im Hofgarten protestierten und demonstrierten. So viele werden sich kaum für die Fernen und Fremden, die Asylbewerber, einsetzen. Aber vielleicht werden es doch 50.000 sein. Und alle wären sie — wären wir— ein letztes Mal dabei: von Walter Jens zu Henryk Broder, von Günther Grass zu Martin Walser, von Lothar Baier zu Dunja Melcic, von Jürgen Habermas zu Cora Stephan, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie zur Gesellschaft für bedrohte Völker, von Pax Christi zu den Ökolibertären. Wann und wo? Um elf Uhr an jenem Tag vor jener Halle, an dem der geplante Sonderparteitag der SPD den Marsch in eine andere Republik, ins deutsche Vaterland, beraten wird. Und vielleicht, wer weiß, haben wir dieses — ein letztes — Mal Erfolg. Der hessische SPD-Parteitag ermutigt dazu.

Am Tag darauf werden wir dann das Kriegsbeil, also PC, Schreibmaschine und Füllfeder wieder auspacken und uns nach Herzenslust und — wie bisher — ohne jedes Risiko zur Freude des lesenden Publikums bekämpfen. Aber vielleicht — hoffentlich — in dem Wissen, unsere eigenste Obliegenheit, den Schutz der Republik, nicht vernachlässigt zu haben. Micha Brumlik

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