Letzte Abfahrt: Wirklichkeit: Individualistenpack!
Sexualneid, Männerfantasien und viel Misogynie treiben die Berlinale voran
Eine Zwischenbilanz muss erlaubt sein: „Beau Travail“ von Claire Denis ist mein Favorit nach der ersten Woche. Wie Leben, Politik, Sex, Musik – um nur die wichtigsten Dinge zu nennen – nicht dasselbe sind und doch viel mit einander zu tun haben. Weiterhin bestätigte sich in dieser lässigen Studie des Lebens meist fauler, verkniffen bitterer, wunderschöner, aber eben auch sehr alberner Männer in der Fremdenlegion: Der Trend des Festivals geht zum Strand (siehe „Inselgeschichten“, „The Beach“ und viele andere Filme, die ohne Strand nicht auskommen; sogar aus dem Höllenbeck-Muff führt ein Weg zum Strand – wenn auch der Rückweg tödlich ist). Nur ganz und gar trostlos-schlechte Filme wie der Wenders verzichten auf Strand. Verschwunden dagegen: die Großstadt. Positive Ausnahme: Athen, eine noch vollkommen unabgefilmte Stadt voller urbaner Überraschungen (warum verkehrt dort die Hamburger U-Bahn?), die in „Sings and Wonders“ an der Seite von Charlotte Rampling die Hauptrolle spielt.
Was hatte ich an dem Film zu meckern? Nun, der Einsatz von Erik Saties „Trois morceaux en form de poire“ zur Illustration davon, dass Zeit nicht direkt unheilsschwanger, aber ganz schön aufgeladen voran geht und vergeht, ist fast so verboten wie die legendär dumme Koyannisquatsch-Idee, Autos im Zeitraffer als Lichtpunkte auf Autobahnkreuzen als Metapher für die wohlorganisierte Sinnlosigkeit monadenhaften Elementarteilchendaseins einzusetzen (gesehen in „Ausweitung der Kampfzone“).
Das Publikum liebt dieses Jahr die Frage, die den Fragesteller als mutig politisch unkorrekten Zeitgenossen ausweist. Ein imbeziles Indivualistenpack! „In meiner Heimat haben wir noch eine Menge Arbeit in den Salzbergwerken“, meint auch der Konsul von Brutopia – ein Ehrengast des Festivals. Zum Beispiel die Frau, die Claire Denis dieses zweifelhafte Kompliment machte: „Mir hat der Tabubruch gefallen. Ich hatte schon befürchtet, dass Sie einen billigen pazifistischen Film machen würden, aber Sie haben ja eine philosophische Aussage gemacht, die an Camus und Genet erinnert.“ Pazifistisch? Nein, das wäre in der Tat nicht mehr comme il faut. So was Unpassendes. Zum Glück hatte der Film, von dem sie sprach, mit Camus nichts und mit Genet sehr viel zu tun. Vor allem aber wie jeder zweite Film, der heutzutage was auf sich hält, alles mit Hermann Melville. Claire Denis’ elegante Überleitung: Schön, dass sie Genet erwähne, seine Billy-Budd-Bearbeitung in „Querelle“ sei wirklich eine der besten Melville-Adaptionen. Und Claire Denis war eben nicht nur die verliebte Gefangene, die mit Genet auf eine Männertruppe wie edle Zuchttiere sieht. Ihre lakonische, von einer Off-Stimme getragene Erzählung wahrt bei aller Verliebtheit die Distanz zur reinen Herrlichkeit. Sie hat ihre Kindheit am Drehort, in Djibouti, verbracht.
Ein viel beachtetes Manifest des Sexualneids hat Michel Houellebecq geschrieben. Sein kongenialer Freund Philippe Harel hat „Ausweitung der Kampfzone“ als depressiven Schelmenroman verfilmt. Ein muffliger Nihilist, dessen Theorien des Sexualneids sich zu großen Ökonomie-analogen Entwürfen aufschwingen: Als die Sexualität noch nicht liberalisiert gewesen sei, hätte jeder genügend Sex abgekommen. Jetzt würden die einen Sexvermögen anhäufen, die anderen aber darben. Schuld sind vor allem Frauen, die zu früh Sex haben und daher für die Liebe unfähig werden, am schlimmsten aber sind Lacan-Zitate. Was alles gegen diesen misogynen Mouell zu sagen ist, liegt auf der Hand, am stichhaltigsten spricht sicherlich die Vorstellung gegen Houellebecqs Sexualdirigismus, dass dann ja irgendeine arme Frau sich einer dieser beiden verflohten heterosexuellen Heinis annehmen müsste, die nach ein paar Getränken aber eh wissen, dass man als Loser Frauen umbringen muss, um sie sich gefügig zu machen. Der Film, der stellenweise um das Kompliment bettelt, mit „Taxi Driver“ oder Woody Allen verglichen zu werden, nervt vor allem, weil er den Geist des Publikums zu treffen scheint. Beifälliges Lachen, wenn „der Held“ eine kurzhaarige, bebrillte Frau schlägt, die ihm die Zigarette verbieten will, oder sich über Leute erhebt, die „banales Zeug“ reden. Gemeingefährliche Irre, die meinen, der Staat müsse für ihre Liebesdürfnisse sorgen, gibt es unter Cineasten eh schon genug. Misogynie in Houelle und Fouelle auch bei den Sex Pistols. Nancys Spungen, so wissen sie alle in „The Filth And The Fury“, war an allem Schuld, auch und vor allem am viel zu frühen Tod von Sid Vicious. Eigenartig, ich dachte immer, er hätte sie getötet. Der zweitschlimmste Mensch sei McLaren, das findet auch der früher mal ganz talentierte Videoregisseur Julien Temple, der ihm die Arschlochrolle in der Pistols-Chronik zuschanzt. Lügner, Stratege, Ideendieb. Dagegen steht der Wahrheitsfanatiker Rotten, der schon beim Anblick einer Lackmontur „Flucht vor der Wirklichkeit!“ brüllt. Vicious und Houellebecq sind sich im Übrigen ja auch einig, dass eine Hippie-Schlampe als Mutter der Ursprung allen Übels sei. Houellebecq hat darüber einen Bestseller geschrieben, Sids echte Mutter hat sich vor wenigen Wochen das Leben genommen, Sid starb bekanntlich 1979. Heute wäre er in dem Alter, wo man hessischer Ministerpräsident werden kann. Die nötige Gesichtsschrundigkeit hatte er ja schon. Das Hakenkreuz-T-Shirt hätte er leider ausziehen müssen.
Die Antwort auf alle Fragen gibt dann doch wieder Claire Denis, deren Musikauswahl (Tarkan, Benjamin Britten, Neil Young) eh traumhaft war. Der Film ist schon vorbei, der Nachspann wird unterbrochen: Denis Lavant, der den ganzen Film über keine schnelle Bewegung gemacht hat, lehnt still in der Ecke einer Diskothek. Man hört Corona: „This is the rhythm of the night, this is the story of my life.“ Da springt er plötzlich wie vom wilden Watz gebissen hoch und zuckt ein paar Sekunden unkontrolliert zum Beat. So entsteht die Story eines Lebens, und so erzählt man sie.
Diedrich Diederichsen
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