Letter from Shanghai: Athen am Huangpu
■ Neoklassizismus und Postmoderne made in China – ein architektonischer Rundgang
Vielleicht war es eine Gegenreaktion auf ein Übermaß an asiatischen Eindrücken, aber zu den ersten Dingen, die in Shanghai erworben wurden, gehörte ein klassischer Gipskopf: der Apollo Belvedere, den seit dem 18. Jahrhundert Generationen von Grand-Tour-Reisenden aus Italien ins restliche Europa schleppten. Dieser Gips steht allerdings, in Gesellschaft weiterer bekannter Antikenkopien, in einer großen Buchhandlung in der Fuzhou Lu, zwischen den Kunst- und Architekturbänden.
Überhaupt gibt es in Shanghai einen Markt fürs klassisch Proportionierte und gipsern Geweißte. Beim „Venus Restaurant“ in der Huashan Lu schmücken hingestreckte nackte Frauenkörper graeco- römischer Provenienz die Fassade, beim Verlassen eines der Villencompounds begeistert mich jedesmal der gegenüberliegende Laden für Stukkaturen und allerlei Neoklassisches. Im ovalen Pool der „Rome Gardens“ kann man seine abendliche Schwimmrunde absolvieren, beäugt von stummen Hochhaustürmen und antiken Figuren. Eine kolossale korinthische Säulenordnung überfängt die obersten vier Stockwerke eines neuen Luxushochhauses im Shanghaier Norden, bekrönt von einem Belvedere, an dessen vier Seiten stummelige Säulen Rundbogen stemmen. Der Werbeprospekt betont ausdrücklich das einmalige Design im „European classical style“, und man schlägt einigermaßen verwirrt den Weg zum Bund, Shanghais kolonialer Schauseite am Huangpu, ein.
Denn Shanghais erster großer Bauboom bot nicht nur der architektonischen Moderne eine einmalige Chance. Die ausländischen Mächte errichteten zwischen 1870 und 1948 am Flußufer eine Monumentalarchitektur, die den Widrigkeiten des schwammigen Bodens trotzte und die ältere – vor allem chinesische – Bebauung zwergenhaft erscheinen ließ. Die Bankgebäude und das 1927 fertiggestellte Customs' House signalisierten jedem, der sich der Stadt auf dem Wasserweg näherte, überdeutlich die in den internationalen Niederlassungen Shanghais konzentrierte ökonomische Potenz.
Vollkommen zu Recht interpretiert der aktuelle Stadtführer der Shanghaier Tourismusbehörde den Brutal-Klassizismus der Jahrhundertwende als reine Machtdemonstration: Besonders die Fassade der britischen Hong Kong and Shanghai Bank von 1923 mit ihrer schwer rustizierten Sockelzone, über deren drei rundbogigen Eingangstoren sich Kolossalsäulen und schließlich die mächtige Kuppel erheben, exemplifiziert die einschüchternde Größe des Geldes. Heute krönt der rote Stern die Spitze der Kuppel, und die gewaltigen Bauten stehen im Schatten der neuen Hochhäuser.
Für einen Teil des aktuellen Shanghaier Baubooms ist offensichtlich eine ihrer ursprünglichen Bedeutung in Antike und Renaissance weitgehend beraubte Architekturikonographie zur verpflichtenden Architektursprache geworden. Dabei erfüllen die klassischen Bau- und Schmuckelemente zwei Funktionen: Zum einen stellen die chinesischen Architekten, deren akademische Ausbildung sie mit dem notwendigen Wissen über die antiken Ursprünge der westlichen Architektur versorgt hat, in ihren Entwürfen eine Verbindung zu der kosmopolitischen Vergangenheit der Stadt wieder her. Zum anderen will man die heutigen Bewohner mit vermeintlich authentischen Zeugnissen europäischer Kultur beeindrucken und sie zugleich in ihrem sozialen Status bestätigen. Denn, so weiß es der Prospekt von „Victoria Plaza“, die Ausstattung und der Service des neuen Wohnkomplexes entsprechen der „royal identity of our tenants“. Da akzeptiert man gern seine neue, königliche Identität und haust in Apartmentburgen, deren Dächer mit Tempeln geziert sind.
Fraglich ist allerdings, ob aus den Blaupausen der postmodernen chinesischen Architektur ein Weg zurückführt in die Peripatetik, wie sie ein Shanghaier Dichter vor sich sieht: „In den Wandelgängen, zwischen den imposanten Säulen, ließen sich Dialoge der klassischen griechischen Art wiederaufführen.“ Stephanie Tasch
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