Lesestoff: Erlernte Hilflosigkeit
■ Wie die Ost-Studis den Wendeherbst erlebten
Günter Schabowski stahl den Studenten die Show. Am 10. November 1989 wollten sie unter großem Medienrummel die Ergebnisse der Urabstimmung an der Humboldt-Universität bekanntgeben: 86,9 Prozent hatten sich für einen von der FDJ unabhängigen Studentenrat ausgesprochen. Doch am Morgen war die halbe Uni im Westen, zur großen Enttäuschung der Organisatoren: „Wer hat jetzt noch einen Nerv für die Urabstimmung?“ Für Ko-Autor Malte Sieber war es der Anfang vom Ende der DDR-Studentenbewegung: „Von Stund an verwenden die DDR-Bürger einen großen Teil ihrer Energie darauf, ihr Begrüßungsgeld auszugeben. Mit der greifbar gewordenen Möglichkeit, möglichst bald an dem angestaunten Wohlstand der Westdeutschen teilzuhaben, sinkt die Bereitschaft, sich für politische Veränderungen in der DDR einzusetzen.“
Das Beispiel zeigt, wie Malte Sieber und Ronald Freytag, beide Mitbegründer des Humboldt-Studentenrats, in ihrem Buch nicht anders als studentische Aktivisten im Westen bisweilen dazu neigen, sich für wichtiger zu halten, als sie sind. Doch während westdeutsche Asta-Referenten weitgehend folgenlos von der Aussicht auf ein neues 68 schwadronieren, haben ihre Kommilitonen im Osten immerhin eine veritable Revolution hinter sich. Freilich standen sie dabei nicht an der Spitze der Bewegung. Das Buch versucht aber zu zeigen, daß ebensowenig das gängige Vorurteil zutrifft, als heranwachsende Elite des SED- Staates hätten sie die „Wende“ einfach „verschlafen“.
Die Autoren konzentrieren sich auf die Ereignisse in Leipzig und – vor allem – Berlin. Nachdem der Rektor schon am 12. Oktober eine Versammlung im Kinosaal nicht hatte verhindern können, strömten fünf Tage später schon 5.000 Studenten ins Hauptgebäude der Humboldt-Universität — einen Tag vor Honeckers Sturz. Die Inoffiziellen Mitarbeiter, die der Stasi noch bis in den November hinein Berichte lieferten, konnten nur noch hilflos vermerken, daß in den Diskussionen „die eingesetzten gesellschaftlichen Kräfte weitestgehend wirkungslos“ blieben. Doch als sich einen Monat danach der Studentenrat konstituierte und 10.000 Hochschüler aus der ganzen DDR im Lustgarten demonstrierten, war der Zenit studentischen Interesses schon überschritten.
Zweimal noch konnten sich die Studenten aufrappeln. Zuerst im Frühjahr 1990, als die Hochschüler eine Erhöhung ihrer Stipendien forderten, die vom Einkommen der Eltern unabhängig waren und nicht zurückgezahlt werden mußten. Proteste gab es noch einmal im Winter 1990/91, als das Wort „Abwicklung“ auf der Tagesordnung stand und es bisweilen schien, „als ob die Studenten nur für ihre alten Professoren die Kastanien aus dem Feuer holen wollten“. Damit war das Protestpotential anscheinend erschöpft, das basisdemokratische Studentenratsmodell gescheitert.
Dafür, daß die ostdeutschen Studenten schon zuvor eher zögerlich agierten und häufig über Formalia die Inhalte vergaßen, bieten Sieber und Freytag mit dem Paradigma der „erlernten Hilflosigkeit“ eine psychologische Erklärung an: Durch das DDR-Bildungssystem an das kritiklose Erdulden von Restriktionen gewöhnt, hätten sie dieses Verhalten auch beibehalten, als die Spielräume weiter wurden. Das Kapitel über die Mechanismen der „sozialistischen Erziehung“ ist vor allem für Leser von Interesse, denen das zweifelhafte Vergnügen versagt blieb, die Bildungseinrichtungen des Arbeiter-und-Bauern-Staats zu frequentieren. rab
Malte Sieber/Ronald Freytag: „Kinder des Systems, DDR-Studenten vor, im und nach dem Herbst '89“, Morgenbuch Verlag, 306 Seiten, 29,80 DM.
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