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LeserInnenbriefe

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Welche Chance fehlt?

betr.: „Er ist White Trash, sie ist glücklich“, taz vom 15. 10. 16

Hans Ulrich Gumbrecht sagt über seinen ältesten Sohn, der Luftwaffenoffizier der Bundeswehr ist: „Er war deutscher Pilot des Jahres, aber der wird regelbefördert. Du hast da keine Chance.“ Welche Chance fehlt ihm? Die Chance, Elon Musk Rotwein über die Hose zu schütten? Die Chance, heroisch zu scheitern? Die Chance, durch eine einmalige Leistung oder einen Glücksumstand für alle Zeiten ausgesorgt zu haben? Zeigt sich der „bekehrte 68er“ Gumbrecht darin, dass ihm solidarisches Miteinander in der Gesellschaft keinen erstrebenswerten Wert mehr darstellt? Herrn Unfried Dank für dieses erhellende Interview.

HANS-ULRICH WERCHAN, Halle an der Saale

Kaum Antworten gegeben

betr.: „Er ist White Trash, sie ist glücklich“, taz vom 15. 10. 16

Peter Unfrieds Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht hat mir kaum Antworten auf die Frage gegeben, warum US-Amerikaner, die dem White Trash zugerechnet werden, politisch für Trump ticken. Dies liegt sicherlich an den Fragen, die Unfried stellt, aber auch an der mir nicht hinreichend konsistent erscheinenden Problemsicht Gumbrechts. Nachdem er zunächst dafür plädiert, diese Menschen ernst zu nehmen, und von den Regierenden fordert, ihre Lebenssituation sozialpolitisch zu verbessern, entwirft er ein kulturpsychologisches Bild dieser von der Gesellschaft abgehängten sozialen Schicht, das die Sinnhaftigkeit aller Versuche sozialer Integration wieder infrage stellt. So fragt man sich, was „teure Bildungsprogramme“ für diese Schicht sollen, wenn er zugleich mit einer gewissen Sympathie festgestellt, dass diese Menschen „keine Anstrengungen (unternehmen), mit denen sie das Leben der Gebildeten kopieren wollen“? Auf der „Harley“ sitzen, den „Wind im Gesicht“, scheint ihm ein durchaus erstrebenswerter Weg zum persönlichen Glück („Das gefällt mir.“).

Mal abgesehen davon, dass sich diese sehr unterschiedlichen Lebensmotivationen gar nicht ausschließen müssen, liefert Gumbrecht tatsächlich wenig Erklärung für die Neigung zur Trump’schen Simplifizierung und ein bisschen viel Verklärung des American Dream („Entweder schaffe ich es richtig, oder ich scheitere heroisch“), um den die Angehörigen des White Trash scheinbar ideologisch kreiseln. Ich will die Realität einer verbreiteten Denkweise, die das Sterben am entzündeten Blinddarm einer staatlichen Krankenversicherung vorzieht, gar nicht anzweifeln. Nur eine begründete und Respekt fordernde Lebensmaxime erkenne ich dahinter nicht.

Anstatt diese Abwehrhaltung gegenüber sozialer Teilhabe, auch Teilhabe an staatlich organisierter Solidarleistung, quasi als originäres menschliches Bedürfnis aufzuwerten und es gar gegen die Haltung einer angeblich saturierten (europhilen) Intelligenz in Stellung zu bringen, wäre wohl genauer nach den wirklichen Ursachen zu fragen. Lohnenswert wäre dabei ein analytischer Blick auf beispielsweise folgende Sachverhalte:

Die USA als historisches Einwanderungsland verfolgten in ihrer Geschichte nie eine systematische nationale Integrationspolitik. Ansätze dazu sind bis heute überwiegend lokal, pragmatisch und privat. Insofern war und ist multikulturelle Toleranz allenfalls eine Haltung derer, die es nach oben geschafft haben. Das nahezu uneingeschränkte Primat des Ökonomischen gegenüber jeglicher Politik war traditionsprägend und bewusstseinsbildend für Generationen der amerikanischen Zivilgesellschaft. Die zum Teil verheerenden sozialen Folgen davon schufen Belastungen, die – begünstigt durch die virulente Ideologie des American Dream – jedoch kaum sozialpolitisch abgefedert wurden, sondern überwiegend nur privat ebenfalls über Generationen von den unteren sozialen Schichten getragen werden mussten.

Um zu verstehen, warum der White Trash tickt wie er tickt, könnte man vielleicht auch Erkenntnisse der Sozialpsychologie bemühen. Eine daraus ist, dass Welterfahrungen im Sinne kognitiver Dissonanzen, die bei Angehörigen des White Trash manifest vorhanden sein dürften, zu verstärktem Autoritarismus, Extremismus und zur Abwertung von Außengruppen führen. Eine weitere ist, dass persönliche Unsicherheit (induziert durch eine Bedrohung der Selbstintegrität) extreme Überzeugungen in sozialen Themenbereichen fördert. Hier dürfte möglicherweise auch eine Erklärung dafür zu finden sein, warum „der Texaner“ das Hantieren mit der brennenden Zigarette an der Tankstelle nicht als blanke Idiotie, sondern als einen Ausdruck seiner Freiheit zu eigenverantwortlichem Handeln versteht.

JOSEF LENHARDT, Braunschweig

Ein „Weiter so“ schadet

betr.: „EU will Märkte knacken“, taz vom 18. 10. 16

Ob Tisa, Ceta, TTIP: Warum wollen unsere Regierungen, der Europäische Rat über die beauftragte EU, die Liberalisierung, damit die Privatisierung weiter vorantreiben, dazu noch in nicht nach­vollziehbaren, abgeschotteten Verhandlungen? Die Kapitalkonzentration, der damit der Weg geebnet wird, sowie die Außerkraftsetzung des Subsidaritätsprinzip, damit die Gängelung der Regionen, sind doch genug in der Kritik und Ursache des Widerstandes in den OECD-Ländern. Also warum? Wohl im Glauben an die problemlösende Wirkung von Wachstum – Wirtschaftswachstum, BSP – von den Brosamen in die öffentlichen Kassen und zu den Armen (90 Prozent) der Wirtschaftstheorie nach fließen werden. Dabei kann die Weltgemeinschaft sich Mengenwachstum in Anbetracht des Klimawandels nicht mehr leisten. Der Stern-Report hat vor zehn Jahren nachgewiesen: Die Schäden des „Weiter-so-Wachstums“ übertreffen die Erträge um mehr als das Zehnfache. Wir haben zehn Jahre des „Weiter-so-Wachstums“ hinter uns. KLAUS WARZECHA,, Wiesbaden

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