: Lernprozesse im Establishment
■ Funktionswandel der DDR-Volkskammer
Nicht dank eigener Einsicht, sondern getrieben von gesellschaftlichem Aufruhr hat sich die Volkskammer der DDR in ein Parlament verwandelt, das zwar nicht demokratisch gewählt ist, aber dennoch zu demokratischer, argumentativer Auseinandersetzung in der Lage scheint. Es ist eine merkwürdige Verkehrung demokratischer Fassade und tatsächlichen politischen Gehalts, die da stattfindet. Und es kommt gewiß ein gerüttelt Maß an Heuchelei hinzu.
Die Volkskammer war zwar der Form nach immer „demokratisch“, doch das Harmoniebedürfnis der regierenden „Einheitssozialisten“ hinderte sie daran, das Schauspiel wenigstens konsequent durchzuziehen. Sie konnten sich die eigene Welt nicht anders vorstellen als in ein klebriges Gebräu allgemeiner „Freundschaft“ eingetaucht. Jeder war mit jedem „befreundet“, selbst „Widersprüche“ wurden zu produktiven „Triebkräften“ erst dadurch, daß sie zu „allgemeinen Interessen“ glattgebügelt wurden. Deshalb fanden auch Scheindebatten nicht statt und mußten Abstimmungen immer einstimmig ausfallen.
Jetzt wird die Form plötzlich ernst genommen. Der frühere Volkskammerpräsident Sindermann wird der „Mißachtung“ des höchsten Staatsorgans angeklagt und kann natürlich nicht sagen, was jeder weiß, daß dies nicht sein persönlicher Fehler war, sondern dem Charakter eines Systems entsprach, in dem die „Volksvertretung“ allein der Kenntnisnahme von Beschlüssen dient, die vom SED-Apparat gefällt worden sind. Willi Stoph muß zugeben, daß die Macht nicht beim Vorsitzenden des Ministerrates, sondern ganz woanders lag so als ob ihm das erst jetzt aufgefallen wäre.
Dennoch ist es nicht nur eine neue Show, die da gestartet worden ist. Die Konflikte, die jetzt zutage traten, sind real, nicht inszeniert. Die Abgeordneten können sich der allgemeinen Aufbruchstimmung nicht entziehen, sie denken an morgen und suchen sich zu profilieren. Das geht momentan nur gegen die SED, die deshalb auch - gestern noch übermächtig nun ziemlich allein im Regen stand.
Ob es den Repräsentanten der ehemaligen Blockparteien in den nächsten Monaten gelingen wird, die Ströme des allgemeinen Unmuts auf ihre Mühlen zu lenken, kann man jetzt noch nicht prognostizieren. Leicht wird es die Opposition nicht haben, die vor einem Monat noch als „staatsfeindlich“ denunziert wurde und um die sich jetzt alle etablierten Kräfte bemühen. Die Volkskammertagung hat nämlich auch gezeigt, daß sich unter dem lähmenden Mantel der allgemeinen Harmonie durchaus einige politische Talente versteckt gehalten haben, die künftig zu Führern eines vorsichtigen politischen Übergangs werden könnten.
Walter Süß
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