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Lernen, Zeit zu haben

Der klassische Freizeitbegriff verliert seine Kontur, denn er war Gegenpol zur Arbeit. Wenn es die nicht mehr gibt, wird die freie Zeit zur Bedrohung  ■ Von Gerhard Schulze

Der Aussteigermythos, wohin hat er sich nur verflüchtigt? Gilt denn heutzutage gar nichts mehr, nicht einmal mehr die Negation? Biographien wie die vom Manager, der zu irgend etwas Indischem konvertiert und ganz entspannt im Hier und Jetzt über die versklavten Exkollegen lächelt, waren noch vor zehn Jahren Drehbücher für die Lebensplanung ganzer Kohorten von Nonkonformisten. Doch schon sind die Aussteiger Figuren von gestern, denen die Nostalgie der Dabeigewesenen ein Goldrähmchen verpaßt hat.

Von einem Sieg der Arbeitsgesellschaft kann freilich keine Rede sein, denn wo wäre diese, bitte? Der Aussteigermythos ist ein Kontrapunkt zum Normalfall des arbeitsamen Lebens; er verflüchtigt sich im selben Maße, wie seine Bezugswirklichkeit, die gesellschaftlich verordnete Mühsal, undeutlich wird. Schon hat man begonnen, Arbeitsreste unter Belegschaften wie Brotrationen in der Hungernot zu verteilen. Gewerkschaften müssen froh sein, wenn ihnen der Verzicht auf Lohnforderungen mit Beschäftigungsgarantien vergolten wird, von denen sicher ist, daß sie nicht lange Bestand haben werden. In immer schneller aufeinanderfolgenden Wellen der Revolutionierung von Produktionsverfahren wird uns die Entbehrlichkeit des arbeitenden Menschen vor Augen geführt, des deutschen zumal, dem die internationale Konkurrenz auf den Hals gerückt ist. Höflich zum Aussteigen aufgefordert, denken die Menschen inzwischen wieder mehr ans Einsteigen.

Wie der Aussteigermythos an die Berufsrolle gebunden ist, so die Freizeitgesellschaft an die Arbeitsgesellschaft. Wer die Rückkehr aus dem „kollektiven Freizeitpark“ in die rauhe Wirklichkeit des Schaffens predigt, ignoriert eine Binsenweisheit: Arbeit und Freizeit sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille.

Freizeit ist ein Begriff, in den eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit einprogrammiert ist. Unter bestimmten Umständen, wie sie im Industriezeitalter vorherrschten, lag es nahe, zwei Sphären des Alltagslebens zu unterscheiden: Arbeit und Nichtarbeit. Beides war zeitlich und räumlich getrennt, aber funktional aufeinander bezogen.

Man arbeitete für die Freizeit, und man hatte frei, um sich für die Arbeit zu regenerieren: ein in sich geschlossener Sinnzyklus, in dem man, dem Hamster im Laufrad gleich, durchs Leben traben konnte. Aber das Industriezeitalter geht dem Ende zu, und das Begriffspaar Arbeit/Freizeit veraltet.

Produktivitätssteigerung und Internationalisierung der Wirtschaft haben eine neue Grenze entstehen lassen: eine Trennung zwischen „drinnen“ und „draußen“, bei der die alte Unterscheidung von Arbeit und Freizeit auf derselben Seite erscheint, nämlich „drinnen“.

Aber auch in diesem eingeschränkten Bereich bleibt die Welt von gestern nicht erhalten. Totale Vernetzung, Service rund um die Uhr, Informationstechnologie und neue Dienstleistungen lösen die räumliche und zeitliche Trennung von Arbeit und Freizeit allmählich auf.

Der „virtuelle Betrieb“, den Davidow und Malone in einem vor kurzem erschienenen Buch beschreiben, hat weder eine feste Belegschaft noch ein das Kollektiv synchronisierendes Zeitschema, noch wenigstens ein Gebäude; er ist ein loses Netz von Spezialisten, die via PC eine Zeitlang kooperieren. Arbeit und Freizeit werden sich wieder vermischen wie im Mittelalter. Um so deutlicher wird die neue Grenze zwischen „drinnen“ und „draußen“ hervortreten.

Wer „draußen“ ist, dürfte kaum das Gefühl haben, viel „Freizeit“ zu haben, denn dazu fehlt ja die Arbeit. Daß diese Feststellung nicht nur eine semantische Spitzfindigkeit ist, zeigt sich am Scheitern von Versuchen, die von Arbeit entleerte Zeit mit dem zu füllen, was man unter „Freizeittätigkeiten“ versteht. Sich beim Fernsehen zu entspannen, setzt den gegenteiligen Zustand der Anspannung voraus, Urlaub die Begrenzung durch den Dienst, jede kleine Flucht den ganz normalen Alltagstrott. Ohne Unterbrechung durch Arbeit verliert die Freizeit ihren Sinn.

Den Weisen, die uns jetzt Ratschläge erteilen, wie man den Anteil derjenigen verringern könnte, die „draußen“ sind, sei Dank gesagt. Nur: die meisten ihrer Rezepte sind von gestern. Neue Produkte, „schlankere Produktion“ (wie Rationalisierung seit neuestem heißt), „Verbesserung des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ (wie unternehmensorientierte Wirtschaftspolitik seit neuestem heißt) – wir vernehmen die alten Imperative mit Ehrfurcht, wenn auch nicht sonderlich beeindruckt. Gewiß, gewiß! Man wird tun, was der Markt erzwingt, ob es nun jemand rät oder nicht.

Doch langfristig wird genau dies zur weiteren Abnahme der Beschäftigung führen.

„Weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für Arbeit zu finden, sind wir von einer neuen Krankheit befallen, nämlich technologischer Arbeitslosigkeit. Ich sehe also für nicht sehr ferne Tage den größten Veränderungen entgegen, die sich je für die Menschheit als Ganzes ereignet haben. Doch es gibt kein Land, das dem Zeitalter der Muße ohne Furcht entgegenblicken könnte.“ Dies schrieb Keynes 1930 in einem Aufsatz mit dem Titel „Die ökonomischen Möglichkeiten unserer Enkel“. Wir sind die Urenkel.

Es ist immer nur von den ökologischen Grenzen des Wachstums die Rede – als wüßte man, wer all die Wirtschaftsgüter verbrauchen sollte, die sich bei einer grenzenlosen Aufblähung der Produktion herstellen ließen. Es gibt nicht nur ein äußeres Limit der Ökonomie, sondern auch ein inneres. Allmählich können wir das, was der Produktionsapparat bei voller Auslastung hergibt, gar nicht mehr abräumen. Der Output wächst schneller, als wir konsumieren und wegwerfen können. Wir können uns weder einen zweiten Verdauungstrakt einbauen lassen noch ein zweites Bewußtsein.

Traditionelles ökonomisches Denken beruht auf der selbstverständlichen Annahme, daß der Bedarf größer als das Angebot ist. Nun ist es an der Zeit, daß man sich über die umgekehrte Situation Gedanken macht. Wenn das Angebot größer ist als der Bedarf: Was dann? Um Antworten auf diese Frage zu finden, wird noch viel Weisheit notwendig sein. Es entbehrt nicht der Komik, daß einerseits das Ziel permanenter Erweiterung der Spielräume tragendes Prinzip der gesamtwirtschaftlichen Transformation ist, andererseits aber zunehmend mehr Menschen ratlos in den emsig geschaffenen Spielräumen herumstehen.

Schopenhauer hätte viel zu lachen. „Die Zeit eines Menschen ist soviel wert wie er selbst“, würde er aus seinen Aphorismen zitieren und damit seiner Meinung Ausdruck geben, daß wir nicht viel wert sind. „Mensch, Arthur“, möchten wir ihm zurufen, „nun verachte uns doch bitte nicht so!“ Aber er schweigt beredt. Und wir beginnen uns zu fragen, ob er nicht recht hat.

Ja, es stimmt: Für die permanente technische Revolution reichte unser Verstand in etwa aus, aber noch nicht so ganz für den Genuß der Früchte unserer Arbeit. In den Freiräumen befällt uns Horror vacui. Wir rufen nach Animateuren, die mit uns spielen sollen. Wir kaufen und entsorgen wie die Verrückten.

Mangels selbstgespürter Bedürfnisse brauchen wir Werbung: „Bitte sagt uns, was uns gefällt!“ Sozialpädagogen mit Zusatzqualifikation für Kulturmanagement organisieren Stadtteilfeste. Cyberspace-Experten arbeiten an audiovisuell-taktilen Kopuliergeräten mit programmierbarem Wunschpartner: die Masturbationsmaschine als Sinnbild für die Transformation der Warenwelt.

Wie die Heilsarmee in der Peep-Show ruft nun ein ganzer Chor ratloser Ratgeber nach geistig-moralischer Erneuerung. Freilich sind es dieselben, die die Fortführung des Betriebs unter allen Umständen fordern.

Für all dies gibt es ein treffendes Wort: doof. Aber so ist es eben, wenn eine völlig neue Situation eintritt: Man probiert dieses und jenes, hat aber keinen Schimmer, wie man den veränderten Anforderungen gerecht werden könnte. Keynes war Optimist: „Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen.“ Wie wir da hinkommen können, hat er uns nicht hinterlassen.

Uns fehlt das Know-how für die Bewegung in Freiräumen, die nicht mehr einfach nur Freizeit mit einer durch Arbeit garantierten Sinngarantie sind. Wir brauchen zweierlei: Kompetenzen und Institutionen. Die eine Aufgabe ist pädagogischer, die andere politischer Natur.

Wir müssen lernen, Zeit zu haben, aber was ist das Lernziel? Csikszentmihalyi, der Glückstheoretiker, beschreibt es als „autotelische“ Lebenshaltung: als Fähigkeit, alle Energie für selbstgesetzte, aber über das Selbst hinausweisende Ziele zu mobilisieren. Immer mehr Institutionen antworten auf das Zeithaben mit Erlebnisangeboten, doch wir brauchen Institutionen, die Ziele organisieren. Es besteht ein völlig ungedeckter Bedarf an Möglichkeiten, sich für etwas anderes zu engagieren als für sein eigenes Vergnügen.

Wo man solche Ziele hernehmen soll? Diese Frage wäre berechtigt, wenn ein akuter Mangel an Problemen bestünde. Aber die Defizite etwa in den Bereichen von Erziehung, Pflege und menschlicher Zuwendung werden immer größer. Sorgen dieser Art sind, so eigenartig das klingt, das Kapital der Zukunft.

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