Lepradorf in Ägypten: Der Ort der Unperfekten
Lepra ist heilbar und dennoch haben viele Menschen Angst vor Erkrankten. In Ägypten betreut die Caritas ein Lepradorf, seit der Revolution wächst das Misstrauen.
KAIRO taz | Jeden Morgen, kurz vor zehn Uhr, schnallt sich Hassan seine Plastikprothese vom rechten Bein, rutscht vor bis an den Bettrand und schwingt seinen Beinstumpf auf das Gestell am Bettende. Dann wartet er auf die Krankenschwester. Wer hier lebt, in Abu Zaabal, sagt Hassan, „der ist auch in Routine gefangen“.
Hassan ist einer von etwa 750 Leprapatienten in der Klinik Abu Zaabal. Zu der Klinik gehört ein Dorf. Dort leben ebenfalls Leprapatienten mit ihren Familien, insgesamt über 2.500 Menschen. Beide Orte, Klinik und Dorf, liegen in der Obhut der Caritas. Zusammen mit dem ägyptischen Gesundheitsministerium ist das katholische Hilfswerk für die Verwaltung der Kolonie verantwortlich, während eine deutsche und eine belgische Hilfsorganisation Geld schicken.
Auf dem Weg nach Abu Zaabal, es liegt gut 40 Kilometer nördlich von Kairo, reduziert sich die ägyptische Gesellschaft. Von der fiebrigen Stimmung auf dem Tahrirplatz ist auf dem Land nichts übrig geblieben. Hochhäuser werden zu Slums, Slums zu kleinen Dörfern. Zuletzt stehen nur noch eine Zementfabrik, ein Kraftwerk und weite Reisplantagen in der Ödnis. Und dazwischen die Lepraklinik.
Hassan ist dankbar dafür, hier leben zu können. Er hält die Organisation für seine einzige Chance auf ein menschenwürdiges Leben. Auch weil er weiß, welche Probleme er „draußen“ hätte. Denn noch immer fürchten sich andere Menschen vor seiner Krankheit, vor den Flecken auf seiner Haut und seinen krallenförmigen Händen. Und das, obwohl Hassan geheilt und die Lepra nicht mehr ansteckend ist. Abu Zaabal ist ein Heim für all jene, die kein anderes Zuhause mehr haben. Es ist der Ort der Unperfekten.
Doch seit der Revolution wird die Arbeit der Caritas in Abu Zaabal immer schwieriger. Auch wenn der Alltag für Hassan gleich geblieben ist, hinter den Klinikmauern nehmen die Probleme zu – und bedrohen damit auch seine Heimstätte.
„Islamisten“ und „Missionare“
Yussif Ramadan und sein Bruder Adi sitzen vor ihrem gemeinsamen „Supermarkt Mekka“ an der Hauptstraße des Lepradorfes. Es gibt Wassermelonen und einen Kühlschrank mit Pepsi-Dosen. Auf dem Regal mit den Chipstüten liegt eine feine Staubpatina. Beide Brüder tragen einen dichten Bart. „Deshalb haben die auch Angst vor mir“, sagt Yussif – „die“, das ist die Caritas.
Der bärtige Muslim Yussif Ramadan ist ein großes Problem für die Caritas. Sie halten ihn für einen Islamisten. Und er hält die Organisation für eine Gruppe christlicher Missionare. Das macht das Zusammenleben in Abu Zaabal schwer. Seit der Revolution und seit islamistische Gruppierungen wie die Muslimbrüder an öffentlichem Zuspruch gewonnen haben, haben sich die Konflikte verschärft.
Neben den religiösen Spannungen zeigen sich jedoch auch andere Probleme in Abu Zaabal, die symptomatisch für ein ganzes Land sind. Ägyptens Zivilgesellschaft, und damit auch die Arbeit in Abu Zaabal, befindet sich bald anderthalb Jahre nach der Revolution in einer gefährlichen Lage: Fachkräfte setzen sich ab, Medikamente und Hilfsgüter fehlen. Zugleich blockierte die vom Militärrat eingesetzte Regierung die Arbeit ausländischer Hilfsorganisationen – ohne mit eigenem Personal Verantwortung zu übernehmen.
Im Falle von Abu Zaabal muss sich die Caritas an zwei Fronten behaupten: Zum einen nehmen die Vorbehalte gegen die christliche Organisation in dem Lepradorf selbst zu. Zum anderen fürchtet die Organisation, dass sie angeklagt werden könnte. Die Caritas in Ägypten lebt vor allem von Spenden aus dem Ausland. Doch gegen ausländische Kräfte hat die bis vor Kurzem amtierende Regierung kräftig Stimmung gemacht.
Verdächtigungen aus dem Dorf
Das Kairoer Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung bekam diese Anfeindungen unmittelbar zu spüren: Gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen wurden die Mitarbeiter aus dem Land geworfen. Der Stiftung warf man vor, mit illegalen Geldern aus dem Ausland zu operieren; zugleich konnte man mit der Denunzierung ausländischer Hilfsorganisationen die ägyptischen Partner angreifen.
Diese Umstände schüren ein Klima der Angst, auch unter den Caritas-Mitarbeitern. In ihrer täglichen Arbeit in der Leprakolonie werden sie dadurch stark eingeschränkt. Sie ziehen sich zurück, statt das Gespräch mit den Bewohnern zu suchen.
„Früher hat die Caritas Gruppen aus dem Ausland durchs Dorf geführt. Wir wurden fotografiert, und es hieß immer, sie spenden Geld für uns. Davon sehen wir aber nichts“, klagt Yussif Ramadan. Seit einiger Zeit führt die Caritas keine Besucher mehr ins Dorf. „Das hier war einmal eine Werkstatt, die die Caritas für uns eingerichtet hat“, sagt Yussif und deutet auf eine Garage mit einem Vorhängeschloss. „Jetzt ist sie geschlossen. Wie viele andere Projekte.“ Einen Computerraum sollte es auch geben, sagt Ramadan, und zeigt auf ein mehrstöckiges Haus. Doch im Dorf munkelt man nun, statt der Computer seien die Schwestern von der Caritas dort eingezogen.
„Bei Allah, wir haben nichts gegen Nonnen. Aber seitdem sie hier sind, werden unsere Projekte eingestellt“, sagt Yussif Ramadan. Das größte Problem aber sei, dass die Leprapatienten im Ort vernachlässigt würden. Ein Freund von ihm habe keine Familie mehr, selbst könne er sich aber nicht versorgen. „Die Caritas hilft ihm nicht“, sagt er, „stattdessen kümmern sich die anderen Dorfbewohner um ihn.“
Alles „Gerüchte“
Magdy Garas, Leiter der Caritas in Ägypten, streitet jede Vernachlässigung ab. Er verweist auf Patienten wie Hassan. In ihnen sieht die Caritas den Beweis für ihre gute Arbeit. Die angeblichen Mängel seien nichts als Gerüchte unter den Dorfbewohnern. „Einige Söhne von ehemaligen Patienten haben extremistische Meinungen“, sagt Garas. Er meint damit Leute wie Yussif Ramadan.
Ramadan selbst war nie Leprapatient. Sein Bruder Adi wurde in den 1980er Jahren in der Klinik behandelt, seitdem lebt die gesamte Familie im Dorf. Zwar wohnen dort die Geheilten, die, die sich und ihre Familien selbst versorgen können, doch sind alle hier groß geworden mit der Gewissheit, dass die Caritas sie versorgen wird. Das Dorf ist auch ein Ort der Abhängigen.
Dass verschiedene Projekte nun eingestellt werden, können viele nicht verstehen und schieben die Schuld auf das christliche Antlitz der Organisation. Die Caritas helfe nur noch einzelnen Dorfbewohnern, erklärt Yussif Ramadan. „Sie diskriminieren uns aufgrund der Religion.“ Sogar eine Kirche sei in Planung.
Die Gerüchte zeigen, wie viel ängstliche Skepsis gegenüber Ausländern oder Christen in der ägyptischen Gesellschaft inzwischen herrscht. Die Dorfbewohner würden die Abnabelung von der Mutterorganisation durchmachen, das sei nichts Ungewöhnliches, sagt Jochen Hövekenmeier von der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe (DAHW).
In Ägypten unterstützt die DAHW Lepraprojekte mit jährlich 150.000 bis 200.000 Euro. Abu Zaabal gehört zu den Kernprojekten. Man habe „klare Maßgaben“, was mit dem Geld passieren soll: Die soziale Betreuung der von Lepra Betroffenen stehe im Mittelpunkt. „Wir wollen Strukturen schaffen, in denen ehemalige Patienten ein selbstbestimmtes Leben ohne Stigmata führen können.“ Einen geheilten Patienten „sein Leben lang zu alimentieren“, so Hövekenmeier, helfe ihm aber nicht weiter.
Bezahlung unter der Hand
Aber auch in der Klinik Abu Zaabal, die weiterhin im Zentrum der Aktivitäten der Caritas bleibt, ist die medizinische Versorgung seit der Revolution schwierig geworden. Immer öfter würde das Gesundheitsministerium keine Medikamente mehr oder nur noch die nötigsten anliefern. Und von zwölf Ärzten, die vor der Revolution in der Klinik arbeiteten, erzählen die Patienten, seien heute nur noch vier übrig. Magdy Garas, der Caritas-Leiter aus Kairo, streitet das zwar ab, doch Angestellte vor Ort bestätigen den Ärzteschwund: „Die Caritas bezahlt hier mittlerweile die Leute unter der Hand, weil die Löhne aus dem Gesundheitsministerium nicht mehr reichen.“
Das ägyptische Gesundheitsministerium steht 40 Kilometer weit entfernt von dem Dorf, aber mitten im Zentrum des neuen Ägypten: zwei Straßen südlich des Tahrirplatzes in Kairo. Im Innenhof des Ministeriums hockt eine Hundertschaft Soldaten gelangweilt im Schatten der Gebäude; sie warten auf ihren Einsatz gegen Demonstranten.
Rechts neben ihnen, in einem kleinen Hinterhaus des Ministeriums, liegt das Büro des Leprabeauftragten. Er ist verantwortlich für die Zuwendungen, die Abu Zaabal erhält, für die Bezahlung der Ärzte, für die Medikamentenlieferungen. Im Flur vor seinem Büro hängen Blätter mit englischen Motivationssprüchen. Sie sind in Klarsichtfolie nebeneinandergepinnt. Ein junger Mitarbeiter hat sie vor Kurzem hier aufgehängt. Es sind Sätze wie „Solve problems in stages.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Liberale in der „D-Day“-Krise
Marco Buschmann folgt Djir-Sarai als FDP-Generalsekretär
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?