: Leitnormen sind keine „Fiktionen“
betr.: „Weg mit der Religion“, taz vom 21. 2. 09
Das Problem, das in diesem Artikel beleuchtet wird, ist die Frage nach dem Ursprung unserer Wertvorstellungen.
Die Einsicht Critchleys, dass sich das moralische Subjekt erst in einem Ereignis konstituiere, lässt sich weiterführen: Ein Handeln ohne ein Warum ist nicht möglich. Dies ist keine „philosophische“, sondern eine wissenschaftstheoretische Erkenntnis: Die funktionsorientierte Theorie des Wissenschaffens und Handelns hat gezeigt, dass jedes Handeln vier Arten von „Wissen“ erforderlich macht, wobei das Wissen um die zu verwirklichenden Werte die entscheidende Stellung im Entscheidungsfindungsprozess einnimmt.
Religionen setzen diese Werte für uns. Wir scheinen damit der Verantwortung für unser Handeln enthoben zu sein. Ein Religionsstifter ist gleichzeitig auch oberster Richter. Denn nur er weiß, was er gemeint hat. Die Beliebigkeit, mit der Religionen gestiftet werden können, hat zu Konsequenzen geführt, die gezeigt haben, dass diese Form der Wertfindung nicht funktional ist, wenn man Inhumanität vermeiden möchte.
Mit „Humanität“ meinen wir Leitnormen wie die Menschenrechte. Diese Leitnormen sind weder „Fiktionen“ noch „universell gültige Wahrheiten“: Wie die funktionsorientierte Wissenschaftstheorie zeigen konnte, sind „universell gültige Wahrheiten“ denkunmöglich. Und wenn Critchley von Fiktionen spricht, an die wir glauben müssten, auch wenn uns bewusst sei, dass es Fiktionen sind, dann lässt sich das, was damit wohl gemeint sein soll, pragmatischer und verständlicher formulieren: Wir müssen die „Flucht aus der Beliebigkeit“ (Mitterer) antreten und daher die Werte setzen, an denen wir unser Handeln ausrichten wollen. Damit übernehmen wir nicht nur die Verantwortung für unser Handeln, sondern errichten auch eine Basis, auf der wir mit dem anderen über Wertsetzungen verhandeln können: Werte zu setzen ist eine „mühselige, lokale, konkrete und weitgehend wenig aufregende Arbeit“ (Critchley).
Nur wenn wir davon überzeugt sind, Werte gemeinsam setzen zu müssen, und nur wenn wir an diesem Prozess beteiligt sind, wird sich der „Motivationsmangel in den Institutionen der liberalen Demokratie“ beseitigen lassen. HANS-JOSEF HECK, Remscheid