KOMMENTAR: Leipziger Einerlei
■ Warum ein abgesagtes Länderspiel mehr interessiert als tödliche Polizeischüsse
Alles klar, das deutsch-deutsche Länderspiel in Leipzig, eine ohnehin groteske Veranstaltung mit eher symbolischem als sportlichem Wert, ist abgesagt. Bleibt nüchternes Abhaken der ganzen Geschichte im Westen und kurzes Gejammer im Osten — egal, ob gewendetes PDS- oder Springer-Blatt: „Das schöne Fest“, „dem Mob gebeugt“ undsoweiter. Das war's dann. Leider, oder besser: kein Wunder.
Mehr als eine Woche war die Öffentlichkeit damit beschäftigt, eine schwachsinnige Diskussion zu führen um „Zukunft“ und „Ehre“ des deutschen Fußballs. Nach zwei Tagen indes bereits keine Rede mehr vom polizeilichen Einsatzleiter, auf dessen — schönes Wort — „Schießbefehl“ hin elf (oder mehr?) Magazine aus Pistolen leergefeuert wurden, und der immer noch Dienst tut. Keine Frage, warum ein Toter und vier Schwerverletzte, 40 (in Worten: vierzig) Meter von den Schützen entfernt, die Folge von „Notwehr“ sein können.
Lieber wird über Fußball debattiert. Biedenkopfs Wort vom „korrekten Verhalten“ der Beamten, es wird hingenommen. Schüsse auf Flüchtende? Nur Radaubrüder als Zeugen, völlig unglaubwürdig. Nicht nur 'Bild‘ kehrt durch seine „Kriegserklärung der Chaoten“ die Sachlage so, daß Bayern-Torhüter Aumann plötzlich „Angst“ hat, im Leipziger Stadion zu spielen: Ein Fan könnte ihn ja erschießen! Da kratzt man sich verwundert hinterm Ohr: Wer hat denn geschossen?
Das Interesse der Öffentlichkeit an Aufklärung des Polizeiskandals ist enorm, ganz so, als sei eine Nußschale mit drei Boat-People im chinesischen Meer gekentert. Leipzig, für Westler jedenfalls ziemlich weit weg. Eigene Nachforschungen — Fehlanzeige.
Aber Leipzig ist vorbei, jetzt interessiert uns Ost-Berlin und besetzte Häuser. Ein Skandal! Die CDU fordert den Rücktritt des Innensenators als politisch verantwortlichem Politiker. Brav! Und Herr Biedenkopf ..., ach nein, lassen wir das. Es wird eine Gerichtsverhandlung geben, wenn sich die Mutter des toten Mike Polley einen vernünftigen Anwalt leisten kann, und wir werden einen „Freispruch“ erleben — mindestens. Davon erfahren wir dann in der Zeitung unter der Rubrik „Vermischtes“. Herr Thömmes
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