Leigh Bowerys Werke in Hannover: Diese entflammte Kreatur
Der Performancekünstler Leigh Bowery, der nicht nur Boy George und Vivienne Westwood inspirierte, erhält in Hannover seine erste umfassende Ausstellung in Deutschland.
Als der Vorhang sich öffnet, sieht man einen massigen Mann nackt kopfüber von einem Gerüst pendeln. Die gefesselten Beine sind mit schwarzen Netzstrümpfen bekleidet, über den Kopf ist eine enge schwarze Latexmaske gestülpt. In seinen Penis und in die Brustwarzen beißen sich Wäscheklammern. Neben ihm spielt ein nackter Gitarrist in einer Wolke blauer Luftballons. Der Mann singt von Schönheit und Lust und davon, dass alles möglich sei, wenn man nur wolle. Dann schleudert ihn der Gitarrist durch eine Glasscheibe direkt vor dem Gerüst.
Die letzte Performance des Künstlers Leigh Bowery in seinem Todesjahr 1994 dürfte die eindringlichste gewesen sein. Ein Mann der schrillen Superlative war der gebürtige Australier zuvor allerdings auch gewesen, mit seinen exzentrischen Selbstinszenierungen hatte er die Londoner Club- und Modewelt der 1980er-Jahre erobert. Mal setzte er sich wie eine lebendig gewordene Kitschskulptur von Jeff Koons als Weihnachtsbaum oder Geburtstagskuchen in Szene, mal posierte er im schwarzen Latexoutfit wie eine künstliche Sexpuppe mit Domina-Appeal. Er färbte die Haut blau wie eine indische Gottheit oder kombinierte eine preußische Pickelhaube zum Blumenkleid.
Wie der Verwandlungskünstler Jack Smith im New York der 1960er und 1970er, der Größen wie Andy Warhol und Robert Wilson inspirierte, gehörte Leigh Bowery zu den "flaming creatures". So heißt Smiths berühmter Film, den Wesen aus dem ambivalenten, obszönen, unzivilisierten Reich des Unterbewussten und des Traums bevölkern. Leigh Bowery wurde seinerseits zum Vorbild für Künstler wie Boy George und Designer wie Vivienne Westwood und John Galliano. Doch er schuf keine bleibenden Charaktere (wie etwa den Hummer, den Jack Smith jahrelang als König des Bösen im Repertoire hatte) und keine bleibende Erzählung. Die erste umfassende Ausstellung in Deutschland, die der Kunstverein Hannover im Rahmen von "Hannover goes Fashion" zeigt, belegt auch die Grenzen, wenn nicht das Scheitern dieses Getriebenen als Künstler.
Leigh Bowerys suchte die Grenze zwischen den Geschlechtern und die Grenze zwischen Mensch und Ding. Seinen überaus maskulinen Körper stattete er üppig mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen aus. Das künstliche Schamhaardreieck, das er bei Aktdarstellungen gerne anlegte, inspirierte Vivienne Westwood: Die erklärte Slipgegnerin entwarf winzige, täuschend echt wirkende Pelzhöschen, die unter anderem Carla Bruni vorführte. Aber auch ein kugelrunder Schwangerschaftsbauch, der manchmal auf der Höhe der Brust sitzt und so mit dem Mutterbusen in eines fällt, spielte bei Leigh Bowery eine große Rolle.
In seinen minutiös ausgeführten Kostümen, die der frühere Modestudent selbst entwarf und nähte, vollzog er zugleich den Übergang des lebendigen Körpers in einen toten Gegenstand. Einen Fuß im fetischistischen Highheel, den anderen klumpig deformiert, stellt er zugleich begehrtes Fleisch und toten Rest zur Schau. Sein Gesicht ist meistens nicht zu sehen. Er versteckte es hinter Masken aus Pailletten oder Federn, hinter elegant geschwungenen Perücken und martialischen Hüten. Selbst wo man seine Züge zu sehen meint, entdeckt man oft einen künstlich gemalten, geklebten und sogar mit Sicherheitsnadeln aufgehefteten Mund. Die auf den ersten Blick so fröhlich und kühn wirkenden Possen erhalten so etwas Trauriges und Gewaltsames.
Leigh Bowery fürchtete sich nach Aussagen von Zeitzeugen regelrecht vor seinem wahren Aussehen. Seine flamboyanten Selbstinszenierungen sollten einen Gegenzauber bewirken. Doch sie bringen die unterliegende Angst deutlich hervor. Wie der Kurator Martin Engler im Katalog schreibt, operierte er in härteren Performances mit Sex, Urin und Blut und begab sich in das SM-Milieu der Schwulenszene. Eine Aura des Selbstekels und der Selbstauslöschung unterliegt selbst seinen heitersten Posen.
Die letzte Performance bringt alle diese Aspekte zusammen. Als verzweifelter Prophet der Schönheit und der unbegrenzten Freiheit fordert Leigh Bowery die Gesetze der Natur selbst heraus. Die Glasscheibe markiert den Raum der Kunst und der Fantasie, in dem dies möglich ist. Doch unübersehbar ist die reale physische Qual des viehisch aufgehängten und malträtierten Körpers. Als dieser schließlich durch die Scheibe schlägt, birst symbolisch der narzistische Spiegel und Leigh Bowery, der eine solche Identifikation mit dem Mutterleib hegte, kommt sozusagen per Sturzgeburt in die Wirklichkeit. Dass er bald darauf an Aids sterben sollte (wie seinerzeit Jack Smith), gibt der Performance rückblickend eine zusätzliche düstere Note.
Doch geht es in seinem ganzen Werk um den Widerstreit von Lust- und Realitätsprinzip und hinter all dem Inszenierungsaufwand treten ungeschönt kindliche Obsessionen und mustergültige freudianische Neurosenmuster hervor. Das in ein größeres Narrativ zu überführen ist ihm nicht gelungen.
Beeindruckender als alle seine Fotos und Videos sind einige Ölgemälde von Lucian Freund am Ende der Ausstellung. Für diesen erbarmungslosen Fleischmaler posierte der Verwandlungskünstler Bowery ohne jede Verkleidung oder Schminke. Freund betonte zwar wie stets die körperliche Masse, arbeitete aber auch den Kopf seines Modells sorgfältig wie für ein Porträt.
Da ist es endlich, das Gesicht von Leigh Bowery. Es ist rundlich und kräftig, keineswegs hässlich. Der Blick aus den großen Augen ist skeptisch, angespannt und sehr weich. Etwas wie eine Bitte um Gnade liegt darin.
bis 26. 10. im Kunstverein Hannover; Katalog 20 €
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