piwik no script img

Leichtathletik Julian Reus, der den deutschen 100-Meter-Rekord hält, ist auch bei den nationalen Meisterschaften in Erfurt auf der Suche nach dem perfekten Rennen. Von fixen Zielmarken hält er nichtsEs sprintet mich

Aus Erfurt Markus Völker

Auf seiner schwarzen Schirmmütze steht: #Essprintet. Julian Reus hat sich den Hashtag ausgedacht und auf ein paar Caps gedruckt. Es ist kein Geschäft, das er mit den Mützen betreiben will, es ist eher ein Spleen des schnellsten deutschen Sprinters, der auf der Suche nach dem perfekten Rennen ist. Ein Lauf, in dem „Gedankenlosigkeit“ und „Anspannung“ eine explosive Mischung bilden. Auf diese wundersame Schubkraft, die man nicht bewusst erzwingen kann, sondern die einem unbewusst zufällt in einem flüchtigen Moment, darauf verweist dieses Kürzel auch: Es sprintet. Es sprintet mich. Man kann trainieren wie ein Wahnsinniger, ist dann aber doch auf eine Eingebung angewiesen, auf das Spezielle der Situation. Ein paarmal hat das schon ziemlich gut geklappt.

Julian Reus hat Rekorde aufgestellt, die in Deutschland ewig Bestand hatten, zum Beispiel hat er über 100 Meter die 10,06 Sekunden des DDR-Läufers Frank Emmelmann unterboten. Der war 1985 in Ostberlin bei einem Testwettkampf in langen Hosen diese Zeit gerannt, in der Hochphase des Anabolika-Dopings. Reus ist im Vorjahr in Mannheim 10,01 Sekunden gesprintet. Das ist grandios schnell für einen Deutschen, aber im internationalen Vergleich ist das nur eine durchschnittliche Zeit. Jedes Jahr rennen etwa dreißig Athleten schneller als 10 Sekunden, zumeist Sportler aus den USA, Jamaika oder der Karibik. Wann also knackt Julian Reus die magische Marke von 10 Sekunden?

Das ist eine Frage, die der 29-Jährige nicht so richtig mag. Er greift sich an den Schirm der Mütze, ruckelt sie ein bisschen zurecht und sagt dann: „Es macht keinen Sinn, sich ein Limit zu setzen.“ Echt nicht? „Ich weiß nicht, was mein Körper kann, aber ich bin davon überzeugt, dass ich noch schneller kann.“ Mit konkreten Zeiten will er nicht operieren, was ja auch schlauer ist, denn wer weiß schon, ob er jemals ein fiktives Ziel von 9,95 Sekunden erreichen würde. „Ich möchte meine Karriere nicht danach bewerten, unter 10 Sekunden gelaufen zu sein, dafür habe ich schon zu viel erreicht. Aber wo am Ende die Grenze liegt, weiß ich nicht.“ Vielleicht hat er sie ja schon erreicht? Wobei: Neulich, in Stockholm, hat er die Grenze mal kurz durchbrochen. Er hatte es über Umwege ins A-Finale des Diamond-League-Meetings geschafft, und dort schob ihn der böige Wind zu einer Zeit von 9,99 Sekunden. Sie wurde offiziell nicht anerkannt, weil die Regeln nur eine Windunterstützung von maximal 2 Metern pro Sekunde zulassen, aber immerhin, dieses Rennen hat Reus gezeigt, „dass es im Sport immer Überraschungen und unerwartete Momente geben kann“. Und darum geht es doch.

In Erfurt, bei den Deutschen Meisterschaften in seiner Heimatstadt, wird von Reus an diesem Wochenende erst einmal erwartet, dass er gewinnt und die sogenannte Norm für die Weltmeisterschaft in London läuft: 10,12 Sekunden. Das wird schwer genug, denn noch vor ein paar Jahren war das für einen deutschen Sprinter kaum zu schaffen. Aber man ist ein bisschen schneller geworden hierzulande. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat vor neun Jahren ein Sprintprogramm aufgelegt, er hat Biomechaniker den nahezu perfekten Laufstil des Jamaikaners Yohan Blake analysieren lassen, er hat Trainingslager in Florida und Südafrika organisiert, und siehe da, plötzlich gab es ein paar Athleten wie Reus, Martin Keller (mit Wind 9,99 Sekunden) oder Lucas Jakubczyk (regulär 10,07), die sehr schnell rannten und in den Emmelmann-Bereich vordringen konnten. Es ging um die Professionalisierung des Sprints. Ohne Doping, versteht sich.

Flotte Männer

Die Schnellsten der Welt:

9,58 Usain Bolt (JAM)2009

9,69 Tyson Gay (USA) 2009

9,69 Yohan Blake (JAM) 2012

9,72 Asafa Powell (JAM) 2008

9,74 Justin Gatlin (USA) 2015

9,78 Nesta Carter (JAM) 2010

9,79 Maurice Greene (USA) 1999

9,80 Steve Mullings (JAM) 2011

9,82 Rich.Thompson (POS) 2014

9,82 Chris Coleman (USA) 2017

Die schnellsten Deutschen:

10,01 Julian Reus 2016

10,06 Frank Emmelmann 1985

10,07 Martin Keller 2013

10,07 Lucas Jakubczyk 2014 10,10 Thomas Schröder 1986

10,11 Sven Matthes 1989

10,12 Eugen Ray 1977

10,13 Steffen Bringmann 1986

10,13 Marc Blume 1996

10,13 Sven Knipphals 2015

Für Julian Reus hieß das, sich eine „Wohlfühloase“ zu schaffen. In Erfurt. Er braucht ein stabiles, verlässliches Umfeld, um Leistung zu bringen. „In Erfurt ist es beschaulich“, sagt er, „hier habe ich das Gefühl von Freiheit und Spontanität.“ Dass es vielleicht auch mal etwas eng werden kann in der Landeshauptstadt, ahnt man, als er darum bittet, das Interview in der Bäckerei Lobenstein im Erfurter Süden doch bitte etwas abseits des hinteren Tisches zu führen, denn da sitze jemand, der solle nicht hören, was er zu sagen hat.

Also setzen wir uns an den einzigen freien Platz in der knalligen Sonne, Reus bestellt sich eine Flasche Wasser und erzählt ziemlich einnehmend über sich und seinen Sport. Seine Gedanken sind klar, er formuliert druckreif. Vorschnell könnte man urteilen: Das ist ein Typ ohne Ecken und Kanten. Tatsächlich sitzt da ein junger, muskelbepackter Athlet, der einen Plan und eine glasklare Struktur hat, der weiß, was ihm guttut und was nicht.

Deswegen war ihm auch schnell klar, dass ihm sein Ausflug nach Wattenscheid zu einem anderen Trainer nichts bringen würde. Der Verein TV Wattenscheid 01 hat in der Leichtathletik zwar ein hervorragenden Ruf, aber Reus kam damals, vor neun Jahren, mit dem rauen Charme des Ruhrpotts nicht zurecht. Am Nachmittag in Bochum loszufahren und wegen des Verkehrs erst um 18 Uhr in Essen anzukommen, das war nervig, erzählt er. Reus war es gewohnt, in Erfurt alle Wege schnell mit dem Mountainbike zu erledigen; es ist ja eh alles ums Eck.

Reus ist in Hanau geboren, mit 11 kam er ins Erfurter Sportgymnasium. „Das war schon hart, aber auch eine Charakterschule, die ich nicht missen möchte“, sagt er. Reus war ein Sprintwunderkind. Mit 16 lief er 11,06 Sekunden über 100 Meter und mit 19 schon 10,28 Sekunden. Ein Quantensprung. Doch dann kam eine schwierige Phase mit dem verpatzten Ortswechsel, mit Krankheiten und Verletzungen: Borreliose, Oberschenkelprobleme, Schambeinentzündung, zwei Knochenödeme plagten den 1,76 Meter großen Athleten mit der Fußballerfrisur. Reus versuchte bei seiner Rückkehr nach Erfurt, beim dortigen LAC unterzuschlüpfen, aber auch das ging schief.

„Für mich, der diesen Sport so liebt, tut es weh, zu sehen, wie schmutzig der Sprint in den letzten Jahren geworden ist“

Julian Reus

„Das hat damals teilweise menschlich einfach nicht gepasst. Das waren unterschiedliche Auffassungen, wie man im Leistungssport arbeitet, das war teilweise Stress pur für mich, so konnte ich nicht arbeiten. Es muss für mich immer hundertprozentig passen.“ Also ist er wieder beim TV Wattenscheid untergeschlüpft, der Trainingsmittelpunkt ist aber in Erfurt geblieben. Die Wattenscheider überweisen einen höheren fünfstelligen Betrag, er hat ein paar Sponsoren, aber das meiste Geld kommt von der Bundeswehr. Da ist er Stabsunteroffizier. Manchmal muss er nach Oberhof ­fahren und sich in der Kaserne blicken lassen. Ein Studium hat Reus auch schon abgeschlossen, er hat einen Bachelor im Fach Internationales Management.

Er hat seine Wasserflasche fast schon ausgetrunken, da schiebt ihm der Reporter einen Zettel über den Tisch. Es ist eine Statistik über die schnellsten 100-Meter-Sprints aller Zeiten. Sie wird angeführt von Usain Bolt mit traumhaften 9,58 Sekunden. Auf den folgenden Plätzen sind sehr viele Namen durchgestrichen: Tyson Gay, Yohan Blake, Asafa Powell, Justin Gatlin. Sie alle haben gedopt. Sie sind der lebendige Beweis dafür, dass der Sprint ein massives Dopingproblem hat und dass die Schnellläufer immer wieder Schnellmacher nehmen. Von den Supersprintern hat nur einer noch seine anscheinend weiße Weste behalten: Usain Bolt. Aber die Zweifel an seiner Leistung sind groß. „Das ist eine harte Statistik“, sagt Reus, er kennt sie. Er hatte sie im November via Twitter selbst weiterverbreitet. „Für mich, der diesen Sport so liebt, tut es weh, zu sehen, wie schmutzig der Sprint in den letzten Jahren geworden ist und vielleicht immer noch ist.“

Wenn Blake, Gay und Po­well nun wieder an den Start gehen, als sei nichts gewesen, dann komme bei Reus zwar kein „Futterneid“ auf, weil die Fake-Flitzer ihm wichtige Startplätze bei internationalen Meetings wegnehmen, es nervt ihn aber schon, „dass diese Leute noch gehypt und gefeiert werden“. Die Deutschen, findet der Sprinter, seien da moralischer, strenger. Er selbst hat sich mit der Mauschelei der Konkurrenz irgendwie abgefunden. Er hat sich oft beklagt, das schon, aber warum soll er sich noch groß echauffieren, wenn er eh gefunden hat, wonach er suchte: „Ich habe meine Leidenschaft zum Beruf gemacht, das ist eine Form von Glück.“ Es sprintet, sozusagen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen