Lehrstellenkrise: Zur Not eben Bürokauffrau

Von wegen Ende der Lehrstellenkrise: Zu Besuch bei der "Nachvermittlungsaktion für Jugendliche ohne Lehrstelle"

Kurz nach Beginn des Ausbildungsjahrs sind rund 200 Ausbildungsplätze vakant Bild: AP

Hannes Hecks* ist 21 und seit zwei Jahren arbeitslos. Er schätzt die Zahl seiner Bewerbungen auf 300. Gerade mal 30 Betriebe haben ihn zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Hecks möchte im Bereich Einzelhandel arbeiten, am liebsten "irgendwas mit Elektronik". Zusammen mit rund 200 Ausbildungssuchenden ist Hecks auf Einladung der Industrie- und Handelskammer (IHK), der Arbeitsagentur und der Handwerkskammer ins Ludwig Erhard Haus zu einer "Nachvermittlungsaktion für Jugendliche ohne Lehrstelle" gekommen. Vier Tage lang, bis zu diesem Freitag, geht die Veranstaltung, die Bewerbungstraining und Lehrstellenvermittlung sein soll.

In diesem Jahr kommen bei den Berliner Arbeitsagenturen auf 18.200 gemeldete Ausbildungsstellen rund 28.000 Bewerbungen. Trotzdem sind es laut Agentur jetzt "nur" noch 2.300 Jugendliche, die noch einen Ausbildungsplatz suchen. "Die 8.000 restlichen Bewerber haben sich privat etwas gesucht oder gehören zu den nicht vermittelbaren Fällen", erklärt Barbara Borchert von der Berufsberatung der Arbeitsagentur das Loch in der Zahlenstatistik. Außerdem entspanne sich durch die demografische Entwicklung die Lage am Ausbildungsmarkt immer weiter, sagen IHK und Arbeitsagentur.

Insgesamt sind jetzt, kurz nach Beginn des Ausbildungsjahrs, rund 200 Ausbildungsplätze vakant. Bei den Vorbereitungen zur Nachvermittlungsaktion konnten weitere 450 freie Lehrstellen aufgetan werden. "Das Dilemma der freien Plätze trotz genügend Bewerbungen entsteht, weil viele ihre Unterlagen beim Arbeitgeber unvollständig einreichen oder wenig passende Auftritte bei den Bewerbungsgesprächen hinlegen", sagt Kerstin Josupeit von der Aus- und Weiterbildung der IHK. Um diese 650 offenen Stellen zu besetzen, wurden alle noch als lehrstellensuchend registrierten 2.300 Jugendlichen zur Nachvermittlung eingeladen. Nach Josupeits Schätzungen reagieren aber höchstens 30 Prozent der Jugendlichen auf die Aktion. Wer ohne Grund nicht kommt, kann allerdings eine böse Überraschung erleben. "Wenn eine Reaktion auf die Einladung ausbleibt, kann das zu einer vorübergehenden Streichung des Kindergelds führen", sagt Josupeit.

Und so warten am Dienstagnachmittag 182 Jugendliche mit Lebensläufen, Anschreiben und Abschlusszeugnissen ausgerüstet auf ein Beratungsgespräch. IHK und Gewerbevertreter haben konkrete Vorschläge für freie Lehrstellen angekündigt. Im Gespräch werfen die Berater einen Blick in die Datenbank und drucken Adressen von ausbildungswilligen Betrieben aus. Wie viele freie Stellen auf Grund der Nachvermittlungsaktion tatsächlich besetzt werden, ist laut Josupeit nicht nachvollziehbar. Unternehmen, die freie Lehrstellen zu vergeben haben, sind zu der Veranstaltung nicht erschienen.

Jasmin Hussein ist eine der Lehrstellensuchenden. Die 22-Jährige trägt ein grün-silber gestreiftes Kopftuch und bewirbt sich vergeblich seit zwei Jahren. "Schwierig, sobald sie in Kontakt mit Kunden kommt", kommentiert ihr Berater Jost Vidic die Kopfbedeckung. In der 9. Klasse hat Hussein ein Praktikum im Reisebüro gemacht, seitdem will sie Reiseverkehrskauffrau werden. Bisher hat sie auf ihre 50 Bewerbungen nur Absagen erhalten. Vidic nimmt Husseins Bewerbungsunterlagen penibel unter die Lupe. Er findet das Anschreiben zu holprig, streicht Sätze und korrigiert die Rechtschreibung. "Spielen Sie mit sich ein Spiel - fragen Sie sich bei jeder Zeile, wofür die gut ist", rät er. Jasmin Hussein lächelt nervös. Dann bekommt sie drei freie Lehrstellenangebote zur Bürokauffrau ausgedruckt. "Na gut", seufzt sie, "ist ja so was Ähnliches".

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