: Legen Sie ihr Amt nieder, Herr Abgeordneter!
■ Unterlagen von 52 Abgeordneten und Ministern fanden sich in 186 Kilometern Stasi-Akten wieder/ Sechs von neun blauen Briefen wurden zugestellt/ Drei weitere stehen der CDU-Fraktion ins Haus/ Namen nennt der Ausschuß grundsätzlich nicht
Berlin (taz) — Der Prüfungsausschuß der Volkskammer tut sich schwer. Ihm liegen die Namen von 52 Abgeordneten und Ministern vor, bei denen eine erste Überprüfung in den Archiven der Stasi ergab, daß sich unter den 186 Kilometern Stasi- Akten auch Unterlagen über ihre Person befinden. Akten, die sie als Täter oder Opfer des Ex-Ministeriums für Staatssicherheit ausweisen. Ein halbes Jahr danach ist die Liste der 52 zu knapp zwei Dritteln abgearbeitet. In neun Fällen führten die Recherchen des Ausschusses zur „dringenden Empfehlung“, der Betroffene möge sein Ministeramt oder sein Mandat aufgeben. Traf die Rücktrittsforderung einen Abgeordneten, wurde das Ergebnis den Fraktionsvorsitzenden mitgeteilt. Traf es einen Minister — und bisher ist nur der Verdacht gegen Umweltminister Karl-Hermann Steinberg (CDU) indirekt durch den Ausschuß bestätigt — wurde die knapp gehaltene Botschaft dem Ministerpräsidenten de Maizière übergeben. Sechs der neun blauen Briefe wurden bisher zugestellt. Drei weitere stehen der CDU- Fraktion ins Haus. Der Ausschuß hat Fraktionschef Günther Krause noch nicht verständigt.
Alle Empfehlungen wurden einstimmig getroffen, berichtete gestern Peter Hildebrandt, Ausschußvorsitzender und Mitglied von Bündnis 90. Sechs zu Null hätten sie für Rücktritt gestimmt, da die Akten der Staatssicherheit eine schriftliche Verpflichtungserklärung enthalten hätten und der Status der Genannten als „Inoffizille Mitarbeiter“ des MfS eindeutig sei. Belegt sei auch, daß die neun eng mit der Stasi zusammengearbeitet und detailierte Informationen an das Mielke-Ministerium geliefert haben.
Bis gestern war auch nicht bekannt, daß die Überprüfungen anhand der Akten in der Berliner Stasi- Zentrale und in den Bezirksverwaltungen in drei Fällen zur vollständigen Entlastung vom Vorwurf der Stasi-Mitarbeit geführt hat. Obwohl „nachgewiesenermaßen“ die Verdächtigten nur Opfer des Staatssicherheit waren, gilt auch hier: Namen nennt der Ausschuß grundsätzlich nicht.
Eine Ausnahme will der Ausschußvorsitzende Hildebrandt nun für Abrüstungs- und Verteidigungsminister Rainer Eppelmann machen. Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, einer der promininentesten Bürgerrechtler der ersten Stunde, hat sich nach den öffentlichen Stasi-Verdächtigungen „sehr dringend an uns gewandt“, sagte Hildebrandt. Auf Bitte des Ministers soll der Gang in die Archive nun umgehend stattfinden. Die Liste der Überprüften ist indessen so unvollständig wie manche der Akten, die der Ausschuß bei seinen Recherchen vorfand. Drei oder viermal, an die exakte Zahl kann sich Hildebrandt bei einem Hintergrundgespräch nicht erinnern, mußte der Ausschuß mitteilen, eine Empfehlung zum Rücktritt könne nicht ausgeschlossen werden: Die Akten seien unvollständig — regelrecht „geplündert“ worden. Da in den Archiven des MfS immer noch die früheren Stasi-Mitarbeiter unbeaufsichtigt arbeiten, lasse sich mit 100prozentiger Sicherheit weiter nicht ausschließen, „daß da was wegkommen kann“.
Der Liste der 52 liegen die Ergebnisse einer Überprüfung im Frühjahr durch die einzelnen Fraktionen zugrunde. In Begleitung eines Rechtsanwaltes und eines Kirchenmannes wurde in den Eingangsdateien F16 und F22 der Stasi nach möglichen Hinweisen auf belastende Akten geforscht. Der Blick in die Datei erfolgte aber nur, wenn sich die Abgeordneten zuvor schriftlich einverstanden erklärten. Weil sieben der Mandatsträger dieses verweigert hatten, wurde anschließend in ihren Fällen bis heute eine Untersuchung unterlassen.
Der Prüfungsausschuß, der zu dieser Zeit noch gar nicht existierte, darf heute in den Fällen tätig werden, in denen die Fraktionen ihre Kenntnisse an den Ausschuß weitergaben. Protokolle der ersten Prüfung sind ihm nicht zugegangen. Überprüft wurden im Frühjahr auch nur Parlamentarier. Minister ohne Volkskammermandat wurden nicht berücksichtigt. Ministerpräsident Lothar de Maizière hat eine entsprechende Anordnung bislang auch nicht erlassen. Wolfgang Gast
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