Legasthenie ist toll!

■ ... wäre da nicht die Schriftsprache. Hinter der Lese-Rechtschreibschwäche schlummern enorme Talente, sagt Ronald Davis Von Burkhard Staßmann

Eine amerikanische Erfolgsstory: Ronnie macht ständig in die Hose, kennt mit elf Jahren seinen Familiennamen noch nicht, kann weder lesen noch schreiben und gilt medizinisch als hirngeschädigter Autist. In der Schule heißt es: geisteskrank. Doch mit 17 mißt man bei ihm einen überraschend hohen IQ. Er wird fortan als hochbegabter Legastheniker speziell gefördert. Trotz erheblicher Lese- und Schreibprobleme wird Ronnie Ingenieur und verdient zwei Millionen Dollar mit der Entwicklung von Interkontinentalraketen. Mit 38 geht er in Rente und wird Bildhauer. Eines Tages holt er sich „Die Schatzinsel“ aus der Bibliothek und liest sie in einem Rutsch durch. Er gründet ein Institut zur Erforschung der Legasthenie, heilt tausend Legastheniker und schreibt ein erfolgreiches Buch.

„Legasthenie als Talentsignal“ heißt Ronald Davis' soeben im Esoterik-Verlag Ariston erschienenes Buch. Der Originaltitel ist noch deutlicher: The Gift Of Dyslexia (Das Talent/Geschenk der Legasthenie). Unterzeile: „Warum einige der intelligentesten Leute nicht lesen können und wie sie es lernen.“ Was ist, fragt Davis, das Erfolgsgeheimnis solcher Genies wie Leonardo da Vinci, Thomas Edison, Walt Disney, Albert Einstein, Whoopie Goldberg, Winston Churchill und Henry Ford? Legasthenie, weiß er. Legastheniker dächten in Bildern statt in Begriffen und seien dadurch 400- bis 2000mal fixer im Kopf als Menschen ohne das Spezialtalent. Und wenn sie in einer Welt ohne Schriftsprache lebten, hätten sie glatt die besseren Karten.

Doch da ist die Schrift, mit ihren vielen abstrakten Zeichen und Zeichenketten, die in der Bilderwelt des Legasthenikers keine Entsprechung finden. In der Schrift verliert er, sagt Davis, die Orientierung. Die Buchstaben und Ziffern beginnen zu tanzen, sich zu verzerren, der Betroffene fängt an sie zu verwechseln, zu verdrehen, zu kippen und zu spiegeln, Silben auszulassen oder ganze Sätze hinzuzuphantasieren. Er gerät in eine furchtbare Streßsituation, die schließlich das Verstehen des Gelesenen unmöglich macht. (Um einem Nichtlegastheniker eine solche Erfahrung zu vermitteln, setzt man ihn vor eine rotierende Scheibe, auf der eine Spirale aufgemalt ist, die den Blick ins Zentrum der Scheibe zieht; wenn ihm dann so richtig schwindelig ist, soll er versuchen, aus einem Buch vorzulesen.)

Der Legastheniker verliert schon in jungen Jahren nicht nur „die Orientierung“, er verliert insbesondere als ,Versager' sein Selbstbewußtsein. Oft ist lebenslange Scham die Folge, und alle Intelligenz wird darauf verwandt, die Schwäche zu verstecken. Es gibt etliche erstaunliche Legastheniker-Geschichten wie die von dem Schüler, der perfekt vorlesen kann, bis der Lehrer merkt, daß er das Buch verkehrt herum hält.

Ronald Davis Legasthenie-Therapie und sein Beratungszentrum in Burlingame/Kalifornien sind in der amerikanischen Fachwelt bisher nicht anerkannt. Die US-Regierung investiert eher in die Suche nach einem entsprechenden Gendefekt. Davis bezeichnet sich auch nicht als Forscher (researcher), sondern als „Sucher“ (searcher). Seine eigene Heilung, die möglich wurde, als er den verzweifelten Kampf mit den Buchstaben aufgab und sich der Kunst (den „Bildern“) widmete, ist die Grundlage der von ihm entwickelten Therapie. „97 Prozent Erfolgsquote“, meldet Davis forsch. Auf Nachfrage definiert er „Erfolg“ als „spürbare Verbesserung beim Lesen und Schreiben oder im persönlichen Empfinden“. Seine Methode rechtfertigt sich nicht wissenschaftlich-theoretisch, sondern (wenn es gutgeht) durch den praktischen Wert.

Die Behandlung selbst dauert bis zu einem Jahr – hierzulande soll sie auf eine Intensivwoche begrenzt sein. Sie besteht aus zwei Teilen: Es wird mit speziellen Konzentrationsübungen gelernt, sich zu orientieren, d.h. die legasthenische Situation, in der nicht mehr das gesehen wird, was ist, „abzuschalten“. Daneben üben die Legastheniker bei Davis, mit einer Reihe für sie besonders schwieriger Wörter umzugehen: solche, die im Kopf keinerlei Bild erzeugen, Beispiel: „und“, „das“ oder „soll“. Im Englischen hat Davis 217 dieser Problembegriffe gefunden. Für jeden muß sein Klient ein individuelles Bild erfinden. Davis selbst hat für „und“ zum Beispiel das Bild von zwei aneinandergekoppelten Eisenbahnwaggons.

Der Meister ist derzeit auf Europatournee, um in Workshops und öffentlichen Veranstaltungen für seine Methode zu werben. In der hiesigen Therapieszene, in der sich die Vertreter psychologisch-klinischer Ansätze mit Anhängern der pädagogisch-soziologischen Richtung um die richtige Therapie streiten, ist Davis völlig unbekannt. Das wird sich möglicherweise ändern. Davis international aktive Organisation hat seinen Deutschland-Start gut getimed: Zeitgleich kommen Davis und sein Buch nach Deutschland; rechtzeitig wurde von dem deutschen Davis-Schüler Albrecht Giese in Hamburg der Verein „Deutsche Legasthenikerhilfe e.V.“ gegründet, Träger des künftigen Ronald-Davis-Instituts.

In Veröffentlichungen des alteingesessenen Instituts für Legastheniker-Therapie und Deutsche Orthographie, das sich gegenüber dem fröhlichen Ex-Legastheniker aus den USA bisher skeptisch-abwartend verhält, wird der Anteil an Legasthenikern unter Erstklässlern auf drei bis zehn Prozent geschätzt. Alles kleine Einsteins? Zumindest sie bzw. ihre Eltern werden Ronald Davis aufmerksam lesen.