: Legalize Hänger 10!
■ Szenen aus der Linie 10 oder: Nur in der Straßenbahn ist die Freiheit grenzenlos
Sie haben heute abend noch nichts vor? Dann haben wir einen Tip für Sie, einen Kurzfilm sozusagen mit Wiederholungs-Effekt: Ziehen Sie eine alte warme Jacke an und pendeln Sie mit der Linie 10 zwischen Dobbenweg und St.-Jürgen-Straße. Live, total illegal, umsonst.
Wenn Sie am Dobbenweg stehen, beginnt der Film etwas bizarr: Ganz verstreut stehen einige Schwarze da und warten, der eine an der Bushaltestelle, der andere bei der Linie 1, ein Dritter an der Telefonzelle. Sie werfen sich hin und wieder einige Worte zu, auch über die Entfernung. Sie fragen sich vielleicht: Die kennen sich, warum stellen sich nicht zu einer Clique zusammen?
Wenn dann die Linie 10 kommt, finden Sie sie alle wieder und noch ein paar mehr, die schon am Bahnhof eingestiegen sind - im Hänger, insgesamt mal fünf, mal sieben Mann. Sie reden durchaus lautstark über die Bankreihen hinweg. Dazwischen ein paar Weiße, Voyeure und Spanner und die, die als Schwarzfahrer kein Risiko eingehen wollen: Hier nimmt die BSAG kein Fahrgeld, will sagen: Kein Kontrolleur traut sich da herein. Und dann sind da die Hauptfiguren, einige schwankende Gestalten, die in den Hänger geklettert sind, eine richtige Hänger-Multikulti-Gesellschaft.
Einer der Schwankenden läßt sich auf einer freien Bank nieder, nestelt ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie heraus, steckt die Geldbörse zurück, schließt die Hand um das Geld. Dann steht er auf, die Bahn rattert schon um die erste Kurve, und nimmt neben einem der Schwarzen Platz. Englische Brocken werden ausgetauscht, der Schwankende steht wieder auf. „Ich heiße Manfred und bin ein anständiger Typ“, sagt er zu allen, die in der Straßenbahn sitzen, und schwankt auf dem Gang nach hinten. Einer der Schwarzen sitzt quer zum Gang hin und läßt den Blick immer wieder von vorn nach hinten schweifen. Er lacht belustigt in sich hinein. „Come, here“ sagt ein anderer, winkt unauffällig-auffällig mit einem Finger. „Manfred“ findet neben ihm Platz, wieder ein paar abgerissene englische Worte. Der Schwarze nestelt an seinen Schuhen herum, zieht etwas heraus. Nach dem Bruchteil einer Sekunde stehen beide auf, gehen zu verschiedenen Türen. „Humboldtstraße“ sagt der Lautsprecher, die Bahn hält. Kaum eine Minute dauert die Fahrt zwischen den beiden Stationen, genug, für den kleinen Handel.
Die anderen Schwarzen fahren weiter, unterhalten sich lustig, die Szene wiederholt sich ein, zwei Mal mit anderen Drogenabhängigen. Nach sieben Minuten ist man an der Haltestelle St.-Jürgen-Straße, da heißt es: alles aussteigen. Die Versammlung zerstreut sich etwas, der eine studiert gelangweilt den Fahrplan, der andere ein Schaufenster. Im Verlaufe der Zeit tauchen die, die zwischendurch überstürzt ausgestiegen sind, wieder auf. Irgendwann kommt die Linie 10 von Osten, und plötzlich sind sie alle wie von Wunderhand gelenkt wieder im Hänger von Linie 10. Und der Film beginnt von vorn.
K.W.
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