: Lebensneugierde
■ Paul Nizons Essay-Band „Über den Tag und durch die Jahre“
Einer macht sich zum Parkplatzhüter einer Straße, rangiert, bewacht, kassiert. Ein frisch verheiratetes Paar findet sich nach neun Jahren Sparen und Enthaltsamkeit hilflos in einer übergroßen Wohnung. Ein anderer sammelt nachts in den Straßen Kippen und ist stolz auf sein „Geschäft“. Der Brief aus Rom eröffnet Paul Nizons Sammelband mit Essays, Nachrichten, Depeschen aus dreißig Jahren. Mit wacher Offenheit nimmt er wahr, was um ihn her passiert, geht nahe an das Geschehen heran, löst es aus dem Fluß der Alltäglichkeit in der fremden Stadt, beschreibt konkret und formt dennoch Figuren und Ereignisse, bis das Vertraute fremd geworden ist und Signifikanz gewinnt.
Paul Nizon bezeichnet sich selbst als „Augenmensch“. Nur zaghaft fügt er den Beobachtungen Deutungen bei, ihr soziologischer Gehalt stellt sich über sprachliche Assoziationen ein. Als Verfahren erlaubt diese Haltung harte Brüche, die in den Essays sich zur Montage weiten. Das nackte schwarze Baby im Postamt sollte von seinen Eltern in die Fontana di Trevi geworfen werden. Durch den Verzicht auf jeglichen Kommentar findet der Leser sich plötzlich aus seiner patronisierenden Affenliebe zum Kakaonegerkind in die Fremdheit einer anderen Kultur versetzt.
Die späteren meisterhaften Essays weiten die kleine Beobachtung zu Kulturpanorama und Gesellschaftsanalyse: Die Souveränität der Concièrge gibt Anlaß zu einem Pariser caractère, das wird zum Bild der Französin (als Verführerin, nicht als Muttchen), führt zu einem Exkurs über den erotischen Grundgestus der französischen Malerei und endet in einem Lobpreis der Kultur des Landes, die dem Schmerz ein irdisches Paradies der Liebe entgegenzusetzen suche. Oder der Strom afrikanischer Einwanderer weckt in dem toleranzerprobten Schweizer rassistische Gefühle der Abwehr und Verteidigung. Nizon läßt sie zu, geht ihnen nach und beschreibt das Zerfallen von bisher intakten sozialen Strukturen in Haus und Quartier. Er erlebt die Selbstverständlichkeit, mit der die Fremden sich niederlassen und die etablierte Kultur zerstören, er sieht, wie Afrika sich in Paris buchstäblich ausbreitet. Beeindruckend sind dabei weniger die drastischen Beispiele als die Augenfälligkeit, mit der eine weltweite neue sozio-ethnologische Situation entsteht: Die „Ränder“ der Alten Welt brechen herein, dezentrieren sie und beenden die Verdrängung, in der sie für den Luxus der Europäer vegetieren mußten. Statt der harmlosen Fremdheit Roms die knallharte Gegenwart der ehemaligen Kolonien, der „Faktor Afrika“ bestimmt die Zukunft, die Perspektive der Exotik weicht der des Verlustes.
Der Abschied von einer Welt bestimmt die großen Essays über Hamsun, Fellini und Robert Walser eben so sehr wie das Suchen nach Wirklichkeitsschöpfungen. In den beiden zentralen Arbeiten über Vincent van Gogh kommt beides zusammen. Der Rummel um seinen hundertsten Todestag (1990) wird zur grandiosen Verdrängung des Endes eines „Zeitalters“, das Porträt Vincents einsamer Fall zeigt seine Bilder nicht als ästhetisches Ereignis, sondern als den letzten, mit aller Verzweiflung und Energie betriebenen Kontaktversuch eines Mannes, der aus der Welt gefallen ist und noch ein letztes Mal und für alle einen Zusammenhang des Lebens behauptet. Hamsuns Herr Nagel findet von seiner zersplitterten Vergangenheit nur im Tod, nicht mehr in der Liebe Erlösung, und Robert Walsers Rückzug in eine Anstalt nimmt sich aus wie die Konsequenz, die das Subjekt in einer entseelten Welt zieht, wenn es aus seinem Traum von Schönheit und einem besseren Leben bei Gefahr des Todes nicht aufwachen darf.
Das Mißlingen eines eigenen Lebensentwurfs ist Thema der Besprechung des Letzten Tango, es blitzt auf in kurzen Texten zum Jahreswechsel und Rauchen, und in Fellinis Filmen findet Nizon das Episodische des Menschenlebens aufgehoben in einem „Mahlstrom“, der sie Opfer und Irrende sein, aber auch Wunder sehen läßt. Wie er in diesen Streifen das gewöhnliche und doch so einmalige Leben entdeckt, das erinnert an seinen frühesten Text aus Rom, und man gewinnt den Eindruck, daß die Neugierde und die Lust, sich dem Fluß des Lebens und der Bilder der Vergangenheit anzuvertrauen, das geheime Band sind, das die verschiedenenen Arbeiten über den Niedergang der abendländischen Dominanz umfängt. Gerhard Mack
Paul Nizon: Über den Tag und durch die Jahre: Essays, Nachrichten, Depeschen . Suhrkamp, geb., 34 DM
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