Lebensgefährliche Entlassung: Die Rhetorik des Staatsrats
Mit Verve hatte Hermann Schulte-Sasse den Rauswurf der kranken Ayten Akin aus Bremer Kliniken verteidigt: Rainer Bensch will den Fall jetzt politisch neu verhandeln.
BREMEN taz | Mittlerweile hat der Fall Akin wieder die politische Bühne erreicht: Noah Akin hatte Strafanzeigen gestellt und den Petitionsausschuss angerufen, nachdem KlinkärztInnen seine Mutter 2008 und 2010 trotz diagnostizierter chronischer Hyponatriämie (Natriummangel) und mit lebensbedrohlichen Laborwerten aus Bremer Krankenhäusern geradezu rausgeworfen hatten: einmal aus Ost, und einmal aus Mitte.
Die staatsanwaltlichen Bemühungen verliefen im Sande, von den drei angestrengten strafrechtlichen Privatklagen ist die eine, die sich auf den Fall von 2008 bezog, verjährt: Das Gericht hat entschieden, sie nicht zuzustellen – zu Unrecht, wie Anwalt Sven Sommerfeldt findet. „Ich prüfe, ob eine Anzeige wegen Strafvereitelung im Amte hier sinnvoll ist“, sagt er. Für fatal hält Akin den Ausgang. „Das weckt den Eindruck, Ärzte könnten sich alles leisten“, sagt er. „So etwas darf es in einem Rechtsstaat nicht geben.“
Auch die Bürgerschaft hatte den Fall auf Anraten des Petitionsausschusses im Frühjahr 2011 für erledigt erklärt. Nun aber schnürt der gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Rainer Bensch, die Akten neu auf. „Uns interessiert natürlich vor allem, welche Rolle der damalige Staatsrat gespielt hat“, so Bensch. „Wir haben einen ganzen Katalog von Fragen an ihn.“ Spätestens bei der nächsten Gesundheitsdeputation müsse die Behörde darauf antworten. Hermann Schulte-Sasse (parteilos), jetzt Gesundheitssenator, hatte nämlich bei der öffentlichen Anhörung im Petitionssausschuss mit Verve jeden Behandlungsbedarf der schwerkranken Frau geleugnet – im krassen und offenkundigen Widerspruch zur allgemein anerkannten internistischen Lehrmeinung. Die Aussage hätte dem damaligen „Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse“ entsprochen, behauptet ein Sprecher des Senators.
Allenfalls auf Nachhaken wird eingeräumt, dass Schulte-Sasses Äußerungen „missverständlich“ gewesen wären: Gemeint ist damit die Behauptung des damaligen Staatsrats, ein Natriummangel sei erst ab einem Wert von 105 Millimol pro Liter Blutserum (mmol/l) überhaupt behandlungsbedürftig. Die Fachliteratur setzt diese Schwelle meist bei 125 mmol/l. Und laut klinischen Studien ist ab diesem Wert die Wahrscheinlichkeit an der Krankheit zu sterben deutlich höher, als zu überleben. Die staatsrätliche „Äußerung bezüglich des Natriumgrenzwertes“ sei eben „nicht verallgemeinerbar“ gewesen, so der Sprecher. Ein dürftiges Ablenkungsmanöver: Das Prinzip Grenzwert ist in der Medizin ein Verfahren der Verallgemeinerung. Die Rede von einem individuellen Grenzwert ist ein Widerspruch in sich.
Den Petitionsausschuss allerdings hatte Schulte-Sasse mit derartiger Rhetorik und sekundiert vom Klinikum-Mitte Oberarzt Thorsten E. gewinnen können: „Ich glaube, es war gut, dass er eigens zu einem persönlichen Gespräch gekommen ist“, bewertet die grüne Abgeordnete Zahra Mohammadzadeh den Auftritt auch rückblickend positiv.
„Die haben uns damals mit Fakten überrollt“, erinnert sich Elisabeth Motschmann (CDU) indes skeptischer an die Anhörung. Und gegen die Autorität zweier Mediziner – „da bin ich mit meiner Theologie natürlich in einer schlechten Position“, sagt sie. Mittlerweile aber verursache ihr die Zurückweisung der Petition „ein schlechtes Gefühl“.
Grund: Auf zivilrechtlicher Ebene ist es Akin gelungen einen Vergleich durchzusetzen. Die zuständige Richterin hatte die von Schulte-Sasse als regelkonform verteidigte Entlassung als offenkundigen Fehler erkannt. „Das bedeutet für mich, dass wir damals auf Basis von Behauptungen entschieden haben, die so nicht hinhauen“, so Motschmann. „Das bedauere ich.“