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Leben mit Panoramablick aufs AKWAtomkraft-Idylle in Neckarwestheim

Der Gemeinde Neckarwestheim ging es gut. Dank des AKWs. Die Kraftwerksbetreiber zeigten sich oft großzügig. Dass es für unsicher erklärt wurde, passt hier vielen nicht.

In Neckarwestheim gehört das AKW für die meisten Bürger selbstverständlich dazu. Wer es für unsicher hält, zieht hier nicht her. Bild: imago

NECKARWESTHEIM taz | Kein Schild verrät, was sich hinter der schweren Metalltür in der Tiefgarage des Rathauses verbirgt. Bürgermeister Mario Dürr schließt auf, tritt in einen fensterlosen Raum: links ein analoges Schaltpult mit Telefon wie aus dem Technikmuseum, in der Mitte ein langer Furnierholztisch, darauf ein Aktenordner mit dem Schriftzug "KEP GKN". Sechs Buchstaben, die für ein Albtraumszenario stehen: "Katastropheneinsatzplan Gemeinschaftskraftwerk Neckarwestheim". Das Kraftwerk mit seinen zwei Atomreaktoren liegt nur ein paar hundert Meter entfernt. Und im Ernstfall wäre hier im Bunker unter dem Rathaus die Einsatzzentrale.

Seit Tagen blickt die Welt besorgt nach Fukushima, Notfallpläne sind in der Region um das japanische Atomkraftwerk für Tausende zur letzten Hoffnung geworden. Dürr aber präsentiert Überdruckventile, Belüftungsrohre und stromunabhängige Handkurbeln im Rathausbunker so ungerührt, als führe er durch seine private Waschküche. Wer seit Jahren neben einem Atomkraftwerk wohne, sagt der parteilose Bürgermeister, der gehe einfach "pragmatischer mit den Dingen um". Er grinst. "Oder haben Sie Fluchtbewegungen draußen auf der Straße gesehen?"

Dürr kennt die Stimmung im Ort. Viele sagen: Wer nicht an die Sicherheit des Kraftwerks glaubt, darf nicht hierherziehen! Sie fürchten eher jene, die nach dem Erdbeben in Japan das schnelle Ende der Atomenergie besiegeln wollen. Schließlich lebt die Gemeinde südlich von Heilbronn seit mehr als 30 Jahren bestens - mit und von dem Atomkraftwerk im ehemaligen Steinbruch unterhalb des Ortes. Als 1976 der erste Meiler hochgefahren wurde, war Neckarwestheim ein Bauerndorf mit 1.800 Einwohnern. Heute leben fast doppelt so viele Menschen im Ort. Siedlungsstraßen mit neuen Einfamilienhäusern ziehen sich die Weinberghänge hoch, viele bieten Panoramablick auf die Reaktorkuppeln, den Kühlturm und die schlanke Wasserdampfsäule am Himmel darüber. Der Tanzclub am Marktplatz heißt "Uranium Bar".

Etwa 250 Neckarwestheimer arbeiten im Atomkraftwerk, viele andere profitieren indirekt von ihm - Handwerker, Putzfrauen, Bäcker, sogar Landwirte: Gleich gegenüber vom Kraftwerkstor kann die technikaffine Belegschaft an einem "Kartoffelautomaten" Knollen von den Äckern ringsherum kaufen.

Die Gemeinde ist seit Langem schuldenfrei, hat obendrein gut 30 Millionen Euro angespart. Dank ihres Atomkraftwerks. Etwa 80 Prozent der Gewerbesteuer kamen im vergangenen Jahr vom Stromkonzern Energie Baden-Württemberg (EnBW). Und obendrein zeigten die Kraftwerksbetreiber sich immer gerne großzügig. Als der zweite Meiler unterhalb des Ortes gebaut wurde, schenkten sie der Gemeinde 10 Millionen Mark, das Geld wanderte in eine "Bürgerstiftung". Sie fördert bis heute Vereine, Kultur- und Jugendarbeit in Neckarwestheim.

Kommune-Einnahmen könnten schrumpfen

Allerdings könnten die Ersparnisse und die Gewerbesteuer bald schrumpfen. Vergangene Woche verfügte die Stuttgarter Landesregierung überraschend: Der ältere der zwei Kraftwerksblöcke muss vom Netz - sofort. Seither ist Neckarwestheim I abgeschaltet. Die wenigsten glauben, dass der Reaktor je wieder Strom produzieren wird. Schließlich ist Neckarwestheim I einer der ältesten Meiler im Land mit besonders reicher Pannenchronik und hätte nach dem rot-grünen Atomkonsens schon 2010 eingemottet werden sollen.

Erleichterung oder gar Freude über die Vorsichtsmaßnahme sind dem Bürgermeister nicht anzumerken. "Ich kann die Entscheidung nachvollziehen", sagt er hölzern. Natürlich müsse man die Risiken angesichts der Ereignisse in Japan neu bewerten. "Aber so zu tun, als wären unsere Anlagen übers Wochenende plötzlich nicht mehr sicher, das halte ich schon für kritisch."

Viele Neckarwestheimer werden da deutlicher. "Hier gibt's doch keine solchen Erdbeben!", schimpfen sie. Und: "Seit wann liegt Neckarwestheim am Meer?" Einige sind aufgewühlt. "Mir macht das wirklich Sorgen", sagt die Wirtin des Hotels am Markt. Es ist der Anblick ihres Buchungskalenders, der Elisabeth Rech verschreckt. Jedes Kreuzchen darin markiert eine Reservierung. Das Muster auf dem Papier ist dicht - bis zum Tag des Erdbebens in Japan. Danach wird es immer dünner. Die Wirtin steht in Rüschenbluse und Blazer am üppigen Frühstücksbuffet, gerade mal zwei Gäste sind im Haus - zwölf Zimmer stehen leer. "Lange", sagt Elisabeth Rech, "hält man so was nicht durch." Ihre Kunden, das waren Ingenieure, Mitarbeiter der Internationalen Atomenergiebehörde, des TÜV. Doch welcher Urlauber will mit Blick auf Reaktorkuppeln entspannen?

Elisabeth Rech versteht nicht, warum die Deutschen über Nacht sieben Reaktoren abschalten - die europäischen Nachbarn hingegen nicht einen. Sie vertraut der Kraftwerksbelegschaft. Ihr Mann habe auch im Atomkraftwerk gearbeitet, er sei ständig auf Schulungen gewesen, erzählt sie. "Aber das Volk, das alles nur aus der Zeitung kennt, ist nicht richtig aufgeklärt!"

Nach Atomkraftgegnern muss man in Neckarwestheim suchen. Sie tragen keine "Atomkraft? Nein danke!"-Buttons an den Mänteln, die anderswo im Land wieder schick sind. Wenn Demonstrationen am Atomkraftwerk stattfinden, reisen die Organisatoren aus Nachbarorten oder größeren Städten an. In Neckarwestheim hat sich bis heute keine Anti-Atom-Initiative gegründet. "Das würde hier niemand aushalten", sagt Doris Fezer, "man wäre da schnell sehr isoliert." Die SPD-Gemeinderätin lebt in einem der wenigen Häuser mit Solarzellen auf dem Dach, für sie ist es eine gute Nachricht, dass der alte Reaktor am Ortsrand nun wohl Geschichte ist.

Die meisten mögen das Atomkraftwerk

Endlich redeten auch namhafte Fachleute offen über die Sicherheitsmängel: den löchrigen Untergrund, auf dem das Kraftwerk steht, und die dünne Betonhülle des Reaktors, die keinen Flugzeugabsturz aushalten würde. Aber Doris Fezer weiß: Mehrheitsfähig ist ihre Meinung nicht im Ort. In Alltagsgesprächen blende man das heikle Thema ohnehin meist aus, erzählt die Lehrerin. "Jeder hat Verwandte oder Bekannte, die da unten arbeiten. Das würde die Freundschaft schon belasten." Dass eine andere SPD-Lokalpolitikerin seit langem einen Geigerzähler am Carport hängen hat, erfuhr sie zufällig vor ein paar Tagen.

Selbst acht Kilometer neckaraufwärts in Besigheim, wo eine grün-alternative Wählervereinigung mit ihrem Anti-Atom-Programm bei der Kommunalwahl mehr als 20 Prozent der Stimmen erlangte, weiß kaum jemand von Geigerzählern im Ort. "Ich hänge das nicht an die große Glocke", sagt Joachim Wölk. Dabei ist er Sprecher einer unabhängigen Strahlenmessgruppe, die acht private Messstationen in der Region eingerichtet hat. Die 30 Mitglieder des Vereins misstrauen den Informationen von Kraftwerksbetreibern und Behörden. Schließlich hätten die Bürger von der radioaktiven Wolke aus Tschernobyl auch erst erfahren, nachdem diese bereits über Deutschland hinweggezogen war, sagt Wölk.

Den Geigerzähler auf dem Dachboden seines Hauses hat er mit einem Laptop verkabelt, Woche für Woche wertet er die Statistik aus, seit 23 Jahren. Im Ernstfall würde der graue Kasten laut piepsen - und Wölk eine Telefonkette starten. Bisher, berichtet der Elektroingenieur, habe allerdings erst einmal ein Gerät angeschlagen. Nicht etwa wegen eines Störfalls in Neckarwestheim. Der für den Geigerzähler zuständige Anti-Atom-Aktivist war strahlenmedizinisch behandelt worden.

In Neckarwestheim würde Wölk für solche Anekdoten vermutlich ausgelacht. CDU-Lokalpolitiker berichten genüsslich, wie wenige Neckarwestheimer mal wieder bei der jüngsten Menschenkette gegen das Atomkraftwerk zu sehen waren. Bei der Landtagswahl 2006 bekamen die Grünen in der Gemeinde halb so viele Stimmen wie landesweit. Im Lokalparlament sind sie nicht vertreten. Im Gegensatz zum Kraftwerksbetreiber EnBW: Ein CDU-Gemeinderat war bis zu seiner Rente als Ingenieur im Kraftwerk Neckarwestheim tätig. Ein anderer ist bei einer EnBW-Tochterfirma beschäftigt. Und der CDU-Ortsvorsitzende arbeitet als technischer Angestellter im Atomkraftwerk. Dass er kein Interview gibt, entschuldigen seine Gemeinderatskollegen mit Terminproblemen.

Natürlich muss es die CDU im Ort ärgern, dass ausgerechnet ihr Ministerpräsident Stefan Mappus kurz vor der Landtagswahl Neckarwestheim I abschalten ließ. Doch Kritik äußern die Herren nur indirekt. "Wir haben vielleicht den Vorteil, dass wir die Technik besser kennen als die Leute anderswo", sagt der CDU-Gemeinderat Gerald Legler. Der Ingenieur warnt, dass mit dem Atomausstieg "eine Technik zunichtegemacht wird, die wir hier vor Ort gut im Griff haben".

Was die Atomkatastrophe auf der anderen Seite der Welt für die Wahl am Sonntag bedeuten wird, das fragen sich jetzt viele im Ort. Der CDU-Mann Bruno Härle hofft, dass die Neckarwestheimer seine Partei nicht für das Aus von Block I bestrafen. Der alte Meiler wäre ja früher oder später ohnehin abgeschaltet worden, analysiert er trocken: "Aber es ist natürlich möglich, dass sich einige Leute von den Bildern aus Japan beeindrucken lassen."

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10 Kommentare

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  • K
    Korkie

    Ich mag den Artikel. Keine Wertung des Journalisten und damit eine wahrscheinlich realistische Momentaufnahme der Meinung der unmittelbaren Kraftwerksnachbarn, die wenig emotional auf AKWs reagieren.

     

    Ich bin auch kein AKW-Freund, aber wie das Grundlast-Problem lösen? Mehr Braunkohle verbrennen?

    Oder wenn der Wind nicht weht (Atom-)strom aus Frankreich kaufen?

     

    Es gibt leider wenig Alternativen zur Atomkraft. Wenn erneuerbare Energien besser speicherbar, günstiger und gefragter wären, hätten sie sich schon längst durchgesetzt. Man kann nicht alles mit Verschwörung und Lobbygruppen erklären...

  • C
    CWK

    In meinem Heimatort haben sie auch ne Müllkippe. Gibt viel Steuereinnahmen und dem Ort geht's finanziell gut. Allerdings stinkts doch ab und zu mal nach Müll...

  • C
    C.R.E.A.M.

    Schön das der AKW Betreiber so einen Rückhalt in der Bevölkerung genießt und sie die Technolige "im Griff haben". Dann haben wir ja endlich einen Platz für ein Endlager gefunden und damit wäre eins der größten Probleme "gelöst". Scheint ja nur eine Frage des Geldes zu sein, wenn dann der Rest von Europa seinen Müll da auch noch abladen darf kommt bestimmt n schönes Sümmchen zusammen.

  • U
    unwichtig³

    Ob die, im Falle eines GAUs dann auch den Müll für uns wegräumen?

    Bestätigt aber meine Meinung von so manchem Dorfbewohner.

    Keine Ahnung von den Fakten aber Anderen vorwerfen sich nicht richtig informiert zu haben...

     

    Ich fordere eine Liste mit Befürwortern der Atomkraft, die könnten dann auch gleich als "Liquidatoren" einsetzen um im Falle eines GAUs die Reaktoren zu sichern.

  • T
    Theo

    Schön, das 3500 Hinterwäldler aus Irgendwo in Nirgendwo kein Problem mit ihrem Atomkraftwerk haben. Nur bedeutet ein ernster Störfall nicht nur, das die 3500 Bauern dort vor die Hunde gehen, sondern vielleicht noch ein paar Millionen mehr. Von Folgeschädigungen usw. mal ganz abgesehen.

     

    Mir ist es ehrlich gesagt egal, was mit so einem kleinen sch.. Kuhdorf passiert, oder mit seinen Einwohnern. Vor allem, wenn die auch noch zu großen Teilen von der Atomkraft leben.

  • K
    khs44

    Alle sind für die Atomkraft, weil ja Arbeitsplätze und gute Zuschüse vom AKW-Betreiber dran hängen.

    Wie viele Störfälle es gegeben hat und damit verseuchtes Wasser? mittlerweile schon ausgelaufen sind wird verschwiegen und die Dummheit der Menschen ist grenzenlos! Oder doch nicht??

  • S
    Siljan

    Ist das jetzt was Neues? Das gleiche in Biblis und Phillippsburg. in den Umlandgemeinden wie Brackenheim, Lorsch oder Kirrlach sieht das dann oft ganz andes aus. Da profitiert dann kaum einer. Die Gemeinde schon mal gar nicht udn der Unmut ist entsprechend.

     

    ich bin in der wenig beneidenswerten Lage in einer Gegend zu wohnen, wo alle 3 Kraftwerke kaum 30 km weg sind. Darf jeder sich ausrechnen wo das ist. Wie die Meinung des 08/15 Bürgers hier zur Kernkraft ist kann sich jeder ausmalen. Ich habe noch keinen Befürworter getroffen. Egal wen ich frage....

  • WB
    Wolfgang Bieber

    Unsere Atomkraftwerke müssen für mindestens drei Monate abgestellt werden - das gebietet das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Selbst eine Entschädigung an die Konzerne erübrigt sich. Mit dem Geld können wir endlich die Erneuerbaren Energien voll unterstützen: http://bit.ly/eDxijD

  • DL
    Der Leser

    Der Bericht liest sich so:

    Alle dort befürworten die Technik und behaupten, sie wäre beherrschbar. Das meint ja jeder solange, bis es mal passiert.

    Und der Rest der Einwohner halten die Klappe und finden es "gut" weil eben der Reichtum davon abhängt. Die Hand, die einen füttert, beisst man nicht.

    Das die ach so vielen Millionen natürlich alle von den Stromkunden kommen, hinterfragen die natürlich auch nicht.

    Mit Geld fängt man Mäuse...

  • MD
    Martin D.

    Ach, gibt's jetzt keine Kugelschreiber mehr ...