Leben in einer Großfamilie: Das Haus der Drillinge
2 mal 3 macht 6 und eine außergewöhnliche Familienkonstellation: Die doppelten Pilati-Drillinge sehen gleich aus, machen denselben Sport und stecken im Dorf fest.
KELCHHAM taz | Im Fernsehen läuft Robin Hood. Die 16-jährige Jeany, mit Basecup, Nasen-Piercing und großen rosa Ohrringen zur Hiphopperin gestylt, hängt am Rechner neben der Flimmerkiste, der sie keine Aufmerksamkeit zollt. Es ist Freitagmorgen, ein Ferientag. Im Wohnzimmer hat Gerhard Pilati, Jeanys Vater, auf dem Ecksofa die Nacht verbracht, sie war kurz.
Mit seiner Tochter hat er bis ein Uhr nachts etwas geguckt – was, daran kann sie sich am Morgen nicht mehr erinnern. Die Scheibe des Aquariums ist mit grünem Schleim überzogen, der Nymphensittich im Käfig gegenüber hat sich versteckt. Aber wenigstens friert man hier nicht so.
Kalt sind die Apriltage in Kelchham, einem Dorf mit 15 Häusern und drei Bauern in der Nähe von Passau, gerade mal 12 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Die Pilatis bewohnen ein altes Bauernhaus mit offenbar noch älteren Fenstern, überall zieht es. Allein im Februar hat Gerhard Pilati über 700 Euro an Heizkosten gehabt. Das Geld ist knapp, deshalb wird nur das Wohnzimmer beheizt. Zweimal die Woche ist Duschtag, dann macht Babu, wie ihn seine sechs Töchter manchmal nennen, die Wäsche und dazu den Trockner an, damit das Badezimmer durch die Abluft etwas wärmer wird.
Ansonsten duschen die Pilati-Schwestern nach dem Kickboxing-Training, zu dem sie mindestens zweimal die Woche gehen. Fast alle Pilati-Töchter haben in den vergangenen Jahren in ihrer Gewichtsklasse eine deutsche Meisterschaft gewonnen. Das ist außergewöhnlich – aber eines noch mehr: Die 16 und 19 Jahre alten Mädchen sind allesamt Drillinge. Zuerst kamen Liza, Lina und Lena, dann Jenny, Jessy und Jeany.
Medieninteresse erloschen
Die Pilatis stehen mit dieser ungewöhnlichen Familienkonstellation in Deutschland einzigartig da. Das ist beim ABC-Club zu erfahren, einer „Internationalen Drillings- und Mehrlingsinitiative“, wie sich der eingetragene Verein nennt. In den USA gibt es Medienberichten zufolge eine weitere Familie, in der zwei Trios hintereinander geboren wurden. So wundert es nicht, dass die Flutlichter der Medien auf die Familie Pilati schwenkten, als sie 1996 ein zweites Mal Drillinge bekamen.
Bild-Reporter kamen vorbei, einen Tag lang wurde fotografiert, bis sich die großen Töchter versteckten und die kleinen heulten – immerhin, dafür gab es 600 Mark. Beim Jahresrückblick „Menschen 1996“ von Günther Jauch trat die Familie damals auf, aber Gerhard Pilati wurmt noch heute, wie tumb er vor lauter Lampenfieber rüberkam.
Vor gut zehn Jahren gab es noch einmal einen Auftritt der Familie, bei der Nachmittagsquasselshow eines Privatsenders. Vor den Kameras erhielten die Pilatis damals einen 1.000.-Euro-Gutschein einer Kette von Spielwarenhäusern. Seitdem interessierte sich niemand mehr für die Doppeldrillingsfamilie.
Dabei wäre einiges zu berichten gewesen, etwa über die vielen sportlichen Triumphe, die die Pilati-Schwestern im Laufe der vergangenen rund 15 Jahre feiern konnten. Im Hausflur ihres zweistöckigen Hauses finden sich über 50 Pokale für Siege beim Kickboxing und Taekwando. Einen Ehrenplatz hat ein großes Foto, das zwei Pilati-Mädchen im deutschen Kickboxing-Team und im weißen Nationaltrikot zeigt. Kickboxing war früher Gerhard Pilatis eigener Sport – er hat ihn den Töchtern nahegelegt, auch um ihr Selbstvertrauen und Durchsetzungsvermögen zu stärken.
50 Trophäen
Die vielen Trophäen im Flur zeugen von den guten Tagen, die selten geworden sind, zumindest wenn es nicht um Sport geht. Seit elf Jahren ist Gerhard Pilati, früher Besitzer mehrerer Elektroshops, arbeitslos. Von seiner Frau Sabine ist er seit dem Umzug von Schorndorf bei Stuttgart nach Kelchham im November 2007 de facto getrennt. Man sei im Guten auseinandergegangen, sagt Gerhard Pilati – und will es dabei belassen. Im Wohnzimmer hängt in einem roten Holzrahmen ein Foto seiner Frau. „Lieb!!“, hat eine der Töchter darunter gekritzelt.
Als alleinerziehender „Hausmann“ bezeichnet sich Gerhard Pilati nun in den Lebensläufen, die er bei Bewerbungen für neue Arbeitsstellen verschickt. Ab und zu findet er einen Aushilfsjob als Fahrer. Trotz Jahren langer Unfallfreiheit ist solch ein Job schnell wieder gefährdet, wenn durchsickert, dass er lange Zeit an Schlafapnoé litt.
Das ist eine mit starkem Schnarchen und Herz-Rhythmus-Störungen verbundene Sauerstoffunterversorgung des Körpers im Schlaf. Sie verhindert, dass das Gehirn nachts in eine Tiefschlafphase absinken kann. Wer daran leidet, ist dauerhaft müde und antriebslos. Seit einer Hals-Rachen-Operation geht es bei Gerhard Pilati besser mit dem Schlafen. Aber sein Übergewicht von etwa 70 Kilo bleibt ein Problem. Er hofft deshalb auf eine radikale Magenverkleinerung. Die müsste ihm das Arbeitsamt zahlen, was dieses aber bisher ablehnt, trotz vieler Ärztegutachten, die Gerhard Pilati herangeschafft hat.
Davon erzählt Gerhard Pilati im Esszimmer, dem anderen leidlich warmen Raum des Hauses. Nebenan liegt die Küche, beide Räume verbindet eine Durchreiche. Über ihr haben die Pilati-Töchter sechs gerahmte Fotos gehängt. Sie zeigen die blonden jungen Frauen in aktuellen Einzelporträts, der Reihenfolge ihrer Geburt nach. Als die Jüngeren noch klein waren, kümmerten sich die älteren Drillinge um sie: Liza als Erstgeborene des älteren Trios um die Erstgeborene der Jüngeren, also Jenny; Lina passte als Zweite auf Jessy, die Fünfte, auf; und Lena als Dritte auf die Sechste, Jeany.
Auch ähnliche Farben haben bei diesen Paaren Familientradition: Die Erstgeborenen tragen zu Festtagen rot und rosa, die Zweiten in der Reihenfolge blau und lila, die Dritten gelb und grün. So sieht man sie auch auf den Fotos. Ein Geschenk an ihren Vater beim letzten Weihnachtsfest, Ausdruck der Liebe zu ihm, des Zusammenhalts untereinander – und des gemeinsamen Stolzes, Teil einer ganz besonderen Familie zu sein. Die 16-jährige, eher rotblonde Jenny sagt, „mit so vielen Mädchen im Haus hat man immer Spaß und Laune“. Klar gebe es auch mal einen halben Tag lang Knatsch, „aber dann ist es eh wieder vergessen“.
Geld ist knapp
Unter den Fotos auf der Durchreiche stehen zwei Kartons mit Lebensmitteln. Wenn der Monat in sein letztes Drittel rückt, muss Gerhard Pilati gelegentlich bei der örtlichen „Tafel“ vorbeischauen, um über die Runden zu kommen. Vom Arbeitsamt erhält er rund 600 Euro im Monat, hinzu kommen 1.200 Euro Kindergeld. „Das langt nicht für einen Monat“, sagt er.
Weitere Hilfe für die siebenköpfige Familie ist selten. Infolge der Medienberichte fand sich nach 1996 ein Gönner, der die Pilatis ein Jahr lang mit 600 Mark pro Monat unterstützte. Ein anderer guter Mensch spendete fünf Jahre lang zu Weihnachten Geld, zunächst 1.200 Mark, dann nur noch die Hälfte, dann nichts mehr. Der Bürgermeister spendierte im Namen der Kommunen zweimal mehrere hundert Euro. Eine Haushaltshilfe wurde ein Jahr lang bewilligt, neun Stunden die Woche kam sie – aber sobald die Jüngsten 14 wurden, wurde diese Hilfe als nicht mehr notwendig erachtet und gestrichen.
Die Pilatis müssen kämpfen – auch weil sie in einem Dorf leben, das ohne Auto praktisch nicht zu erreichen ist. Nur zweimal am Tag fährt ein Bus hierher, morgens und abends. Der Kleinbus der Familie ist im Mai vergangenen Jahres aus unklaren Gründen vor der Tür abgebrannt. Nun gibt es ein kleineres Auto, aber das Benzin ist zu teuer. In der Familie hat einzig Lina einen Job, sie fährt Pakete aus. Nur sie hat auch, neben dem Vater, einen Führerschein.
Immer wieder wird Lina von ihren Schwestern gebeten, sie irgendwohin zu fahren. Schon nach wenigen Minuten ist zu erleben, wie Lina solche Ansinnen abwimmelt – „weil es mich nervt!“, wie sie in der üblichen Schroffheit unter Geschwistern einer Großfamilie faucht. Außerdem darf sie ihren Laster aus privaten Gründen offiziell gar nicht nutzen. Die Familie Pilati steckt fest in Kelchham. „Ohne Führerschein ist es scho a weng fad hier“, sagt Lina mit starker Untertreibung. Ihre ältere Schwester Liza meint, in den Sommerferien sei es besonders schlimm: „Sechs Wochen Knast“, sagt sie knapp.
Die jüngeren Pilati-Schwestern geben sich alle Mühe, ihren Hauptschulabschluss zu machen, die älteren haben ihn geschafft. Aber dann? Liza macht derzeit in einer Schule eine Ausbildung zur Hauswirtschaftlerin, ihre Schwester Lena ist arbeitslos – allein in der vergangenen Woche hat sie zwölf Bewerbungen geschrieben.
Die Abgeschiedenheit Kelchhams ist eine große Hürde. Liza braucht Stunden, um in ihre Berufsfachschule und wieder heimzukommen, auf der Hin- und Rückfahrt muss sie mehrfach umsteigen.
Mehrere Jobs und Ausbildungsstellen gingen den Pilati-Schwestern schon flöten, weil sie nicht rechtzeitig am Arbeitsplatz oder bei der Lehre sein konnten. Auch deshalb wäre eine Wohnung in der Stadt wichtig. „Wir suchen, aber wenn die Vermieter hören, sechs Kinder …“ – Gerhard Pilati vollendet den Satz nicht. Auch ein möglicher Auszug der älteren Töchter etwa zu ihren Freunden ist für Pilati eine zwiespältige Angelegenheit. Das verkleinere die „Bedarfsgemeinschaft“ und verringere das Wohngeld, das die Behörden genehmigen. Ein Umzug könnte nötig werden. Aber wohin?
Asoziale „Praissn“
Vielleicht könnte die Dorfgemeinschaft die Familie auffangen – aber damit ist es nicht weit her, so schildert es Gerhard Pilati bei einem abendlichen Rundgang durchs Dorf. Der dort ist mit dem verfeindet, schon ewig, die mit der. Klar, es gibt gute Nachbarn. Aber die Pilatis erleben auch Ausgrenzung, wie Lena erzählt, als „Praissn“, wozu hier im Niederbayerischen offenbar auch die Schwaben schon gehören – „oder wir sind asozial“, sagt Lena, weil der Vater „vom Staat lebt“.
Neulich hat eine Nachbarin das Heim der Pilatis als Freudenhaus tituliert. Und wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmt, die Gerhard Pilati von seiner Vermieterin nebenan erzählt, dann wünschte man eine solche nicht seinem ärgsten Feind.
Liza zeigt ihr Zimmer im ersten Stock, es geht vorbei an einem alten Wandspruch „Mein Heim in Frieden, mag Gott behüten“. Lizas Zimmer ist groß, aber erbärmlich kalt. Sie hat als einzige der Schwestern einen eigenen Fernseher, darüber hängt ein Samurai-Schwert, das sie 2005 als Deutsche Meisterin gewonnen hat. Das sei ihr Glücksjahr gewesen, sagt sie.
Mehrere Pilati-Schwestern hätten gute Chancen, an der diesjährigen Kickboxing-Weltmeisterschaft in den Niederlanden teilzunehmen – aber es wird voraussichtlich schon an den Sichtmarken scheitern, die 10 Euro pro Person kosten. Nur wenige Probleme lassen sich wegboxen. Es bräuchte einen Robin Hood für die Familie Pilati. Oder wenigstens einen Sponsor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen