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Leben in der CuvrybracheDas Gold ihrer Mutter

Canada, eine junge Romni, lebt in Berlin in einem Slum. Sie will nicht zurück nach Rumänien – aber hier zu bleiben, ist schwer.

Neben den rund 30 Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien leben auch Polen, Russen und deutsche Punks hier. Bild: dpa

BERLIN taz | Decken und einen langen Rock hat Canada bekommen. Jetzt braucht sie noch Schuhe, denn sie läuft jeden Tag durch Berlin. Nur zum Schlafen geht sie in die kleine, selbst gebaute Baracke auf der Brache in der Cuvrystraße in Kreuzberg direkt an der Spree. Mit Mutter, Kind und Schwägerin teilt sie sich die sechs Quadratmeter. Zwei kleine Sofas, ein Bett, ein Tisch. Lebensmittel sind keine zu sehen. Nur ein paar Pfandflaschen. Manchmal herrscht Chaos, Klamotten überall, manchmal ist aufgeräumt. Dann liegen bunte Tücher über den Sofas. Wenn alle die Baracke verlassen, schließen sie sie mit einem Fahrradschloss ab.

Solche Baracken gibt es viele auf dem Gelände über dessen Eingang „Welcome in free Cuvry“ steht. Neben den rund 30 Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien leben auch Polen, Russen und deutsche Punks hier. Ein Slum mitten in Berlin. Der Eigentümer will das Gelände räumen lassen. Bald.

Seit sechs Jahren pendelt Canada zwischen Deutschland und Rumänien. Ihren Namen gab ihr die Mutter, weil sie einmal einen Film sah, in dem die Heldin so hieß. Canada spricht vorsichtig und schaut dabei in die Ferne. Wenn sie lächelt, zeigt sie ihre goldenen Zähne. Sie hat sich die gesunden Zähne abschleifen und Kronen darauf setzen lassen. Das koste nicht viel: 35 Euro ein Zahn. „Bei uns Zigeunern gilt das als schön“, sagt Canada. Das Gold stammt von den Ohrringen, die ihre Mutter ihr zur Hochzeit schenkte. 14 Jahre alt war sie damals. Jetzt ist sie 21.

Canadas Tag fängt um 5 Uhr an. Sie steht auf, stillt ihren Sohn Alex. Er war vier Monate im Mai. Wenn Canada gefragt wird, wie alt er jetzt ist, antwortet sie immer noch „vier Monate.“ Sie erinnert sich nicht an das Datum, an dem er zur Welt kam. Der Vater von Alex hat sie vorher verlassen. „Er hat geheiratet, eine Zigeunerin wie wir“, sagt Canada. „Wenn eine so was macht, die Schlampe, zerstört sie die Familie.“ Canada hofft, dass er zurückkommt. Ihre Mutter hat ihr aus der Hand gelesen und ein Kraut mit Zucker vermischt. Wenn er wiederkommt und mit ihr schläft, soll sie täglich am Zucker lecken, damit er bleibt. Die Mutter ist Wahrsagerin. Sie kann auch im Kaffeesatz lesen. Canada sagt, die Mutter hätte so schon vielen geholfen.

Um 8 Uhr, wenn es anfängt in der Baracke heiß zu werden, macht sie sich fertig. Sie arrangiert sich die Haare, manchmal wechselt sie die Klamotten, manchmal geht sie in denen, in denen sie auch schlief, los zum Betteln.

Leute, die „Papistisch“ – verpiss dich – sagen

Canada spricht kein Deutsch außer „Danke schön“. Beim Betteln sagt sie „Please, give it to one Euro pur baby. Danke schön!“ und wird verstanden. An guten Tagen bekommt sie 10, 15 oder auch 20 Euro, an schlechten nichts. „Jeder hilft, wie er kann“, sagt sie. Manche geben Kleider, manche Geld. Eine Frau hat ihr einen Kinderwagen geschenkt. Und dann gebe es noch die bösen Leute, die „Papistisch“ – verpiss dich – zu ihr sagen. Canada denkt, das sei ein anderes Wort für Zigeuner.

Trotzdem: Berlin gefällt ihr. Es sei besser als in Rumänien. „Da kannst du auf der Straße sterben und niemand schaut hin.“ In Rumänien sei zu viel Elend, sie will nicht zurück. Aber hier zu bleiben, ist schwer. Sie braucht eine polizeiliche Anmeldung, „eine Adresse“, sagt sie. „Wie soll ich die kriegen ohne Geld?“ Ohne Anmeldung kann sie auch nicht arbeiten. Vor zwei Jahren, als es mit dem Betteln noch besser ging, wohnte sie für 150 Euro zur Miete in einer kleinen Wohnung in Kreuzberg. „Mit neun anderen Leuten. Zigeuner wie wir.“

taz am wochenende

Essen mehr Menschen weniger Tiere, wenn Veganer statt Bildern von gequälten Masthähnchen lieber die von saftigen Seitan-Schnitzeln posten? Zu Besuch bei drei Genuss-Missionaren in der taz.am wochenende vom 26./27. Juli 2014. Außerdem: Wie die ersten beiden Weltkriegstoten nach hundert Jahren immer noch keine Ruhe finden. Und: „Ein flaues Gefühl in der Magengegend begleitete mich jeden Tag.“ Die Filmemacherin Elfe Brandenburger über ihre Jugend an der Odenwaldschule. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Am nächsten Tag um 8 Uhr schläft Canada noch. Es ist heiß. Ihre Mutter ist schon wach. Sie weckt Canada, die sich schnell eine rote Blume in die schwarz gefärbten Haare steckt. Die Frauen auf dem Gelände hatten sich die Haare gefärbt und ihr Farbe abgegeben. Sie hat sie mit Wasser aus der Feldflasche gewaschen, die sie in den Bars der Umgebung auffüllen kann. Canada legt das Baby in den Kinderwagen, klopft den Staub vom Kleid, und geht. Sie will zu „Amaro Drom“ am Weichselplatz in Berlin-Neukölln – ein Verein für Sinti und Roma. Eine rumänische Frau gab ihr den Tipp. Da gebe es Hilfe.

Canada kann nicht lesen, nicht schreiben

Um 8.30 Uhr ist Canada dort und reiht sich in die Schlange. Andere Roma sind noch früher gekommen als sie. Da fragt einer, woher sie stammt. „Aus Rosiori de Vede, Alexandria, Teleorman.“ Sie spricht mit den anderen auf Romani. Die sagen, dass man ihr in der Beratungsstelle nur helfen könne, wenn sie eine Anmeldung hat. Eine Frau sagt ihr, sie solle zum Beauftragten für Migration und Integration gehen. „Da geben sie dir Adresse und Arbeit. Sie haben mir sehr geholfen.“ Die Frau sei vor einem Jahr, als sie nicht mehr wusste, wohin, einer Schar von Roma gefolgt und alle gingen dorthin. Canada schaut die anderen an. „Ich bin umsonst hierher gekommen. Ohne Adresse kann ich nichts machen.“ Sie lässt sich den Namen der Behörde aufschreiben. Sie kann aber nicht lesen und schreiben.

Schnell geht sie danach zurück, denn die Polizei hat für heute mit der Räumung des Geländes gedroht. „Ein Hotel soll darauf gebaut werden“, sagt sie. „Früher haben wir im Görlitzer Park gewohnt, wie viele andere.“ Ihr Bruder, der kürzlich aus Rumänien kam, und ihr Schwager übernachteten immer noch dort. Als sie zurück bei der Baracke ist, ist die Polizei nicht da. Tags darauf erfährt sie, dass die Polizei das Gelände erst räumen will, wenn ein anderer Platz für die Leute gefunden wird. Es gibt das Gerücht, dass sie in Waggons umgesiedelt werden sollen.

Ein paar Tage später, 8 Uhr morgens, die Baracke ist abgeschlossen. Eine Frau aus der Nachbarhütte sagt, Canada sei bereits am Kottbusser Tor. Sie sei mit Mutter und Kind unterwegs.

Autoscheiben putzen am Kottbusser Tor

Am Kottbusser Tor, wo der Autoverkehr im Kreis um Stahlträger der Hochbahn fließt, ist es laut. Auf dem Grünstreifen mitten im Kreisel sitzt Canada mit weiteren Roma. Sie trägt einen rosa-violett gestreiften Pullover und einen langen, mit Blümchen bedruckten Rock. In ihrem Haar leuchtet eine rote Blume. Sie lächelt. Wenn die Ampel rot ist, rennen einige von ihnen auf die Straße, um Autoscheiben zu putzen. Springt die Ampel auf Grün, weichen sie zurück.

Viele Roma-Familien haben sich an dieser Kreuzung gesammelt, sitzen auf den Bänken des Platzes. Alte, Junge, eine geht auf Krücken, ein anderer sitzt auf dem Boden, trinkt Bier. Die Jungen machen die Arbeit. Es ist 11 Uhr und Canada hat einen Euro verdient. In einer Hand den Wischer, in der anderen eine Plastikflasche Wasser gemischt mit Shampoo. Viele Autofahrer stellen die Scheibenwischer an, wenn sie sich nähert. „Das bedeutet, dass sie es nicht wollen“, sagt Canada und entfernt sich von dem schwarzen BMW. Sie geht zum nächsten Auto. Auch dieser Fahrer will nicht.

Wenn es mit Betteln nicht so gut läuft, geht sie zu den Ampeln und putzt Autoscheiben. Aber das läuft auch nicht gut. „Wir sind zu viele, aber wir wollen zu keiner anderen Kreuzung gehen. Hier hat sich die Polizei an uns gewöhnt“, sagt sie.

Canada macht jetzt eine Pause. Sie geht zu ihrer Mutter, die auf der Bank sitzt und sich um das Baby kümmert. Auf ihrem linken Arm hat die Mutter „Manieri“ tätowiert – der Name einer ihrer Brüder. Fünf Kinder und ihr Mann sind noch in Rumänien. Sie leben von Kindergeld, das dort 20 Euro pro Kind beträgt.

Lange konnte Canadas Mutter nicht schwanger werden, deshalb adoptierte sie das erste Kind. Es war ein rumänischer Junge, der inzwischen seine eigene Familie hat und nichts mehr von seiner Ziehmutter wissen will. Später, erzählt die Mutter, habe sie noch ein Kind adoptiert: einen schönen Jungen, 13 oder 14 Jahre alt, „blond, mit heller Haut und blauen Augen, wie eine Ikone“, sagt die Mutter. „Wir sind gesegnet, weil wir rumänische Kinder adoptieren können. Nicht wie die Rumänen, die keine Roma-Kinder nehmen.“

„Du kannst Jungen nicht mit Mädchen vergleichen“

Canada setzt sich auf den Boden. Umringt von Frauen legt eine Roma ihren Kopf auf Canadas Schoß. Canada nimmt ihre Brust aus der Bluse und presst, bis Milch kommt. Sie tropft der Frau Milch in das rechte Auge. Alle lachen. „Das hilft, wenn du Schmerzen am Auge hast, aber das geht nur, wenn das Baby ein Junge ist“, sagt die Mutter. Canada will jetzt ihr Kind stillen. Sie hat nicht mehr so viel Milch. Sie bräuchte eine Babyflasche, damit sie unabhängiger wird. Der Junge könnte dann bei ihrer Mutter bleiben und sie könnte besser arbeiten. Sie hat Spaß dabei. Auch mit den jüngeren Männern. Die sind schneller und verdienen besser als die Frauen. Ein Mädchen sagt: „Du kannst Jungen nicht mit Mädchen vergleichen.“

Es ist sechs Uhr abends und Canada hat sechs Euro verdient. Sie geht zurück zur Cuvrystraße.

Die Autorin

Aura Cumita, 35, Journalistin, kam 2003 aus Rumänien zum Philosophiestudium nach Berlin

Wo soll ich morgen hingehen? Wo soll ich betteln gehen? – Mit diesen Fragen geht sie ins Bett und steht tags darauf wieder auf. Sie hat gehört, dass die USA ein reiches Land sei. Dass es dort mit dem Betteln leicht sei. „So habe ich gehört“, sagt sie.

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Stellungnahme von Amaro Foro e.V. Teil 2: Auch über diese eindeutigen sachlichen Fehler hinaus halten wir den Text für sehr bedenklich.

    Die mediale Darstellung von Roma in Berlin konzentriert sich seit Jahren auf die recht kleine, aber öffentlich sehr sichtbare Gruppe in Cuvrybrache, Görlitzer Park und der besetzten Schule sowie rund ums Kottbusser Tor. Die meisten von ihnen kommen aus der rumänischen Region Teleorman. Diese Gruppe ist nicht mit anderen Gruppen von Roma vergleichbar, nicht einmal mit anderen rumänischen Roma. Unserer Erfahrung nach kommen die meisten Roma in Berlin, oder jedenfalls eine sehr viel größere Gruppe, aus den Regionen Bacau und Dambovita. Wir sehen deshalb diese Fixierung auf eine kleine, nicht repräsentative Gruppe sehr kritisch und hätten von einer Zeitung wie der taz etwas Anderes erwartet.

    Das gilt auch für die Darstellung der jungen Frau und ihres Umfelds. Natürlich gibt es Roma, die den gängigen Klischees entsprechen (Wahrsagen, Handlesen, lange Röcke und Blumen im Haar), aber die Frage ist, ob das genau der Ausschnitt der Realität ist, den man (als explizit linke Zeitung!) zeigen möchte. Solche Darstellungen tragen unserer Meinung nach nur zur weiteren Verfestigung der Klischees bei; viel wichtiger wäre es doch, mal etwas Anderes zu zeigen. Hinzu kommt, dass all diese klischeehaften Elemente für den Text völlig verzichtbar gewesen wären, da sie für die Darstellung der Situation der jungen Frau überhaupt nicht wichtig sind.

     

    Es ist uns völlig unverständlich, dass ausgerechnet die taz einen solchen Artikel zu diesem Thema bringt. Gerade von der taz hätten wir einen respektvollen Umgang mit einer Roma-Selbstorganisation erwartet, was in diesem Fall bedeutet hätte, dass zumindest minimalste Standards gehalten werden - nämlich dass man eine NGO kontaktiert und Informationen über sie überprüft, bevor man sie veröffentlicht. Von allem anderen Problematischen im Text ganz zu schweigen.

  • Stellungnahme von Amaro Foro e.V.: Sie erwähnen im Artikel die von Amaro Foro e.V. betriebene Anlaufstelle, behaupten aber fälschlicherweise, sie würde von unserem Bundesverband Amaro Drom e.V. betrieben. Auch alle weiteren Informationen über die Anlaufstelle sind nicht korrekt: Ihrer Darstellung nach wird dort nur Menschen geholfen, die über eine Anmeldung verfügen. Das ist schlicht falsch; mit einer Anmeldung ist vieles einfacher, aber es wird bei uns niemand weggeschickt, der keine hat. Wir haben im Gegenteil sogar ein ganzes Projekt nur für Menschen mit Wohnproblemen, von denen viele logischerweise keine Anmeldung haben. Das Projekt heißt "Aufsuchende Arbeit und Unterstützung bei Obdachlosigkeit" und wird von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen finanziert.

    Im Übrigen ist für die aufsuchende Arbeit und Betreuung der Menschen in der Cuvrybrache - bzw. für den ganzen Bezirk Kreuzberg - der Träger südost Europa Kultur e.V. zuständig. Nichtsdestotrotz hätten wir, wie gesagt, der Frau selbstverständlich versucht zu helfen, wenn sie in unsere Beratung gekommen wäre.

    Es wird außerdem im Text nicht ganz klar, von wem der Ratschlag kommt, zur Integrationsbeauftragten zu gehen; man kann es auch so verstehen, als würde der Ratschlag von einem/r unserer Mitarbeiter/innen kommen. Dies wäre ebenfalls falsch.

    Ganz offensichtlich wurde keine dieser Informationen im Text von Ihnen verifiziert, wofür ein einfacher Anruf bei uns genügt hätte. Die Überprüfung von solchen Informationen gehört zum journalistischen Mindeststandard.

  • Der Artikel zeigt, dass es gerade Refugeeinnen aufgrund der Hetze der pi-nazis schwer haben und viel zu wenig vom Bezirk geschieht! Das ist Versäumnis der Grünen. Warum wird das den Menschen zugemutet, in diesem reichen Land?

  • Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, was der Artikel sagen möchte...Alle negativen Stereotype werden bestätigt ( unfassbarer, mittelalterlicher Aberglaube, steinzeitliche Geschlechterverhältnisse, Bildungsferne...warum sollte irgendeine Gesellschaft sich auf diese Neubürger freuen?) und warum spricht die Autorin von "Romni", die Betroffenen selbst nennen sich aber ganz unverkrampft "Zigeuner" (Diese Erfahrung habe ich übrigens auch schon öfters selbst gemacht...)

  • Danke für diesen Artikel. Ich fahre regelmäßig durchs Kotbusser Tor.

    Bisher hatte ich eher ein restriktives Nein, in Zukunft werde ich wohl auch mal was geben, obwohl ich weit unter dem Mindestlohn bin - vorzugsweise den Mädchen ?