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Archiv-Artikel

Leben in Scherben

Sollte es einen Gott geben, dann schaut er bloß zu: In „Mystic River“, dem neuen Film von Clint Eastwood, begehen Menschen Fehler mit fatalen Folgen. Und weil sie das zwar wissen, aber nicht miteinander reden können, machen sich alle schuldig

von HARALD FRICKE

Bei Clint Eastwood ist Stil eine Sache der Gewohnheit. Schweigsam und lonesome, als Westernheld oder mit Herzschrittmacher. Insofern ist es erstaunlich, dass er Boston als Schauplatz für „Mystic River“ wählt. Die Universitätsstadt stellt nicht gerade das Milieu dar, das zum Cowboy passt, auch wenn er bei seinem 24. Film in eigener Regie gar nicht selber mitspielt. Aber schon in der ersten Einstellung wird klar, wo das Interesse liegt: Während der Charles River die Boomtown-Bereiche von Boston und Cambridge trennt, verläuft der Mystic River weiter landeinwärts durch Industriegebiete und Armenviertel. Hier kann die Kamera im Rückblick auf die Siebzigerjahre über Arbeitersiedlungen kreisen, hier sitzen Männer in Jeans auf der Veranda und unterhalten sich über Football und die Rezession. Denn die working class kennt ihre Tradition, darin ist Eastwood auf einer Linie mit Bruce Springsteen.

Trotzdem reicht in „Mystic River“ ein Ereignis der Vergangenheit, um die Entwicklung von drei Jungen aus der Bahn zu werfen. Einer von ihnen wird bei einem harmlosen Streich von einer Polizeistreife aufgegriffen und abtransportiert. Das Kind verschwindet drei Tage, die Cops entpuppen sich als Vergewaltiger. Schon im Vorspann liegt das Leben so sehr in Scherben, dass es 25 Jahre später zur Katastrophe führt: Während Sean Devine (Kevin Bacon) mittlerweile beim FBI arbeitet und sich Jimmy Markum (Sean Penn) vom Kleinkriminellen zum Eckladenbesitzer gemacht hat, steht für Dave Boyle (Tim Robbins) die Zeit seither still. Er ist noch immer der Zwölfjährige, der in das Auto steigen musste, er ist selbst als Familienvater das Opfer dieser schrecklichen Tat geblieben. Ein Untoter, der Dracula-Filme im Fernsehen anschaut, weil er sich wie ein Vampir fühlt, der nicht zurück ins Leben finden kann.

Das Trauma als dunkle Seite des american dream: Über weite Strecken nimmt es Eastwood sehr ernst mit der Aufarbeitung, auch wenn er dafür in „Mystic River“ Umwege geht. Markums volljährige Tochter wird ermordet, Devine übernimmt mit seinem Kollegen (Laurence Fishburne) den Fall. Schnell ist der Hauptverdächtige ausgemacht: Boyle war der Letzte, der das Mädchen in der Nacht zuvor noch gesehen hat; und ausgerechnet bei Boyle findet sich fremdes Blut auf dem Autositz. Dass er behauptet, er hätte im Kampf einen kleinen Jungen aus den Fängen eines Pädophilen gerettet, passt nur allzu gut ins Bild des seelisch gestörten Opfers, das im Wahn der Erinnerung zum Täter wird.

Langsam und mit eisigem Blick zieht Eastwood die Schlinge enger. Dabei haben die Schauspieler ein gewaltiges Pensum an Verzweiflung zu bewältigen: Fast wortlos gräbt sich der Schmerz ins Gesicht von Sean Penn, mauert sich Tim Robbins in seiner Rolle hinter der Verstocktheit des Außenseiters ein. Eastwood setzt weder auf emotionale Method-Acting-Schübe noch auf Hysterie, stattdessen steigert sich die Beklemmung in Vorwürfen und Mutmaßungen, die angedeutet, aber nicht ausgesprochen werden. Man hatte eine gemeinsame Jugend, man kennt einander viel zu gut, das ist der psychologische Grobschliff einer mit den Jahren zerfallenen Community: Alle Last vollzieht sich atmosphärisch und doch face to face.

Auf diese Mischung aus Furcht, Wissen und Ahnen baut Eastwoods Film bis zum Desaster. Markum kann den Verlust seiner Tochter nicht verkraften, deshalb schickt er seine alte Gang auf die Suche nach dem Mörder, um ihn zu töten. Die Entscheidung fällt ihm schwer, schließlich hat er nie vergessen, was seinem Freund Boyle angetan wurde. Sprechen würde er darüber nie, selbst vor dessen Ehefrau, die zur Verwandtschaft gehört, schweigt er über das Geheimnis. Und auch Devine mag nicht glauben, dass Boyle ein solches Verbrechen begangen haben könnte, dafür steht er ihm und seinem Leid immer noch zu nahe. Wieder und wieder kreist die Frage nach der Schuld um den auf ewig irreparablen Augenblick: Was wäre geschehen, wenn einer der beiden anderen damals in das Polizeiauto gestiegen wäre?

Die Antwort, die Eastwoods „Mystic River“ anbietet, ist nicht gerecht und doch nicht ohne Moral. Am Ende ist Boyle tot, der Mörder von Markums Tochter aber war ein anderer. In ihrer Unfähigkeit zu reden haben sich alle schuldig gemacht, das Leben läuft davon unbeirrt weiter: mit Feiertagsparaden, am historischen Ort, wo mit der Boston Tea Party der Kampf um die amerikanische Unabhängigkeit begann. Insofern zielt der als tragische Crime-Story verpackte Kommentar auf den Zustand der US-Gesellschaft ab. Gegen falsches Handeln vermögen weder Mitgefühl noch Gesetze etwas auszurichten. Menschen machen Fehler, manchmal mit fatalen Folgen, mehr sagt Eastwood nicht. Wer sollte auch ein Urteil sprechen oder gar vergeben können im Land of the free? Und wem sollte dann vergeben werden? „Unforgiven“, das ist ein schweres Los, an dem sich der 73-jährige Eastwood zäh bis ins Alter abzuarbeiten versucht. Sollte es einen Gott geben, dann schaut auch er bloß zu, so wie die Kamera im Park von der Leiche des Mädchens über Baumwipfel hinweg suchend in die Höhe schwenkt – und dort nur das gleißende Weiß des Himmels findet. Eine Leerstelle, nichts weiter.