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Leben in Corona-ZeitenEine absurde Lotterie

Gesunde Menschen erkennt man daran, dass sie nicht viel über die Ungleichheit der Corona-Betroffenheit nachdenken. Oder sind das Soziopathen?

Heute Nachmittag aber „Schwimmschule“. Denn noch kann ich hin Foto: Aaron Raymond/Imago

D er Schlosspark Charlottenburg in Berlin war noch nie so voll. Wie ein Tourist, der sich über Touristen aufregt, bin ich von den ganzen Menschen irritiert, denen wie mir nichts Besseres eingefallen ist, als hier spazieren zu gehen. Spazieren gehen fühlt sich jetzt an wie Auto fahren. Vorausschauendes Gehen, um die Distanz zu wahren: Ah, der Jogger wird seine Bewegungsrichtung garantiert um keinen einzigen Grad ändern, denn das könnte er nicht mit seinem Männlichkeitsentwurf vereinbaren, dann weiche ich lieber jetzt schon ein wenig zur Seite aus.

Ganz übel ist das Seiteneingangstor zum Schlosspark, wo sich die Menschen stauen wie Autos auf dem Stadtring (früher). Ich halte die Luft an, wenn ich an jemandem etwas enger vorbeigehe. Luft anhalten ist bestimmt eine nützliche Virenprävention.

Neulich habe ich im Park einen Freund getroffen, unerwartet, meine Überraschung ließ mich Corona vergessen, und als ich ihn umarmen wollte, wich er panisch zurück und formte – vielleicht bilde ich mir das auch nur ein – mit seinen Fingern ein Kreuz. „Oh, klar, sorry“, sagte ich und winkte dann ein bisschen, aus zwei Metern Entfernung, und fühlte mich komisch, weil ja panisches Zurückweichen nicht die erhoffte Reaktion auf den Versuch einer Umarmung ist, ob mit oder ohne gekreuzten Fingern. Aber natürlich die richtige, verantwortungsvolle Reaktion gerade. Freundschaft in Zeiten von Corona.

Als es losging mit der Pandemie, las ich überall, also auf Twitter, die halbironische Erinnerung, Shakespeare habe damals die Quarantäne während der Pest genutzt, um „King Lear“ zu schreiben. Die Implikation: Wie wirst du nun Corona nutzen? Die Pandemie als Life-Hack: endlich genug Zeit für ein Meisterwerk. Wenn nicht, um „King Lear“ zu schreiben, dann wenigstens, um „King Lear“ zu lesen.

Ich kann mich gegen diesen Optimierungsimperativ nicht wehren – und bin privilegiert, weil bisher unbetroffen, genug, um ihn in Handlungen übersetzen zu können – und habe angefangen, den „Zauberberg“ zu lesen. Gefällt mir gut bisher. Besser als „Faust II“, mein letztes Corona-Projekt. Ich denke an Franz Kafkas berühmte Tagebuchnotiz vom 2. August 1914: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.“ Wie erlebe ich die Pandemie? Jeden Nachmittag „Schwimmschule“.

Sollte ich mich schlecht fühlen?

Während auf Intensivstationen Menschen mit dem Tod ringen, ringe ich mit Goethe. Es ist eine absurde Lotterie. Aber im Aushalten dieser Ungleichheit habe ich Übung, wie andere auch, und gesunde Menschen erkennt man daran, dass sie sich über die Ungleichheit nicht zu viele Gedanken machen. Würde ich sagen. Oder sind das Soziopathen, die man daran erkennt? Sollte ich mich schlecht fühlen? Schlechter?

Gegen das schlechte Gewissen habe ich jedenfalls einen Zettel in den Hauseingang gehängt: „Corona-Hilfe“, hier unsere Telefonnummer, liebe Nachbarn und Nachbarinnen, falls Sie Hilfe beim Einkaufen brauchen. Dem Nachbarsjungen gebe ich jetzt über Skype Gitarrenunterricht. Wenn seine Gitarre gestimmt werden muss, treffen wir uns kurz im Treppenhaus.

Wenn ich in zehn Jahren Fiona Apple hören werde – „Fetch the bolt cutters/I’ve been in here too long“ –, dann werde ich an diese Tage, an diese Wochen, an diese Monate denken. Ich hoffe, es werden keine Jahre.

Jeden Tag schaue ich mir die neuen Zahlen an. Erkrankte, Verstorbene, Genesene. Es wäre vermessen, nicht davon auszugehen, dass meine Freunde, meine Frau oder ich nicht selbst irgendwo in der Tabelle auftauchen könnten, früher oder später. Heute Nachmittag aber „Schwimmschule“. Denn noch kann ich hin.

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Jan Jekal
Freier Autor
Geboren 1993 in Kiel, seit 2018 freier Autor für die taz. Hat Nordamerikastudien (M.A.) am John F. Kennedy-Institut der FU Berlin studiert. Schreibt vor allem über Pop und Kino, auch für die Süddeutsche Zeitung und den deutschen Rolling Stone.
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