: Leben heißt das Lernen lernen
■ Bei der Feldenkrais-Bewegungsarbeit geht es in erster Linie nicht um Heilung oder Therapie, sondern um Selbsterziehung und vorbehaltloses Erforschen der Welt
Der Anfang mag ein wenig lächerlich erscheinen. Angesichts der Größe der Erwartungen, die man an eine Bewegungsmethode hat, die viel verspricht, wirken die ersten Übungen geradezu absurd: auf dem Rücken liegen mit angewinkelten Beinen. Einen leichten Druck auf die Füße ausüben, das Becken zur Körpermitte hin rollen lassen und zurück. Das Kinn parallel zur Beckenbewegung senken und heben. Die Augen der Kinnbewegung folgen lassen, dann nach oben schauen, während das Becken nach unten rollt. Langsame, konzentrierte Bewegungen. Ein Erfühlen des Körpers also, der Koordination, der Berührungspunkte des Körpers mit dem Boden. Später in der individuell bequemsten Haltung liegen und den Körper vom Lehrer „bewegen“ lassen. Den Kopf in die Hand des Lehrers legen, ihn schwer machen, fallen lassen. Entdecken, daß die Bewegung der Schulter nach vorn ganz leicht ist, nach hinten aber plötzlich überhaupt nicht weiter will – und ein wenig schmerzt. Das ist der erste, tastende Einstieg in die Feldenkrais-Methode.
Der israelische Gelehrte Moshé Feldenkrais rauchte dicke Zigarren, er trank gern und er verachtete biodynamische Kost. Er war Physiker und Neuropsychologe, und er teilte das Wesen des Menschen in drei Bereiche ein: in Vererbung, Erziehung und Selbsterziehung. Vererbung und Erziehung sind im Menschen veranlagt, die Selbsterziehung jedoch hängt von seinem eigenen Willen ab. Für Feldenkrais mußte der Mensch sich seiner selbst und der Funktionen seines Körpers bewußt werden, wenn er „wirklich Mensch sein will“. Moshé Feldenkrais nannte das „Bewußtheit durch Bewegung“, wobei der Akzent auf dem Wort „Bewußtheit“ liegt, und er entwickelte hierzu eine Lernmethode, die später nach ihm selbst benannt worden ist.
Durch leichte, feine, aber funktionsgerechte Bewegungen soll der Schüler seine alltäglichen, körperlichen Verhaltensweisen und dementsprechend auch seine alltäglichen Muster kennenlernen. Er soll wach werden für eingeschliffene Gewohnheiten, neue Möglichkeiten erlernen, die angeborene Beweglichkeit des Körpers wiederentdecken. Je kleiner diese Bewegungen sind, desto einfacher und konzentrierter sind deren Wahrnehmungen. Kindliche und längst vergessene Bewegungsmuster werden neu entfaltet. In der Feldenkrais-Methode geht es nicht um Heilung – und nicht um Therapie. Es geht um das Lernen, um das „Lernen lernen“, vielleicht am ehesten so, wie es Kinder können: als ein sinnliches, neugieriges, vorbehaltloses Erforschen der Welt.
Für die Feldenkrais-Pädagogen Anne Mess und Thomas Schramm ist das Ziel der Methode die „(Wieder-)Erlangung und Steigerung des körperlichen, geistigen und seelischen Wohlbefindens“. Anne Mess – nach Worten suchend für ein Ding, das schwer zu beschreiben ist – nennt das auch „Licht auf dunkle Stellen werfen und die innere Landkarte vervollständigen“. Feldenkrais kann jeder lernen. Die Frage der Begabung, des Talents, stellt sich nicht. Die ersten Erfolge stellen sich mit überraschender Leichtigkeit ein. Gelernt wird im organischen, neurologischen, nicht aber im intellektuellen Sinn. Anne Mess, die vor sieben Jahren nach einem Schleudertrauma und dem „allgemeinen Gefühl der Stagnation“ zum ersten Mal Erfahrungen mit Feldenkrais machte, ist in den ersten Stunden immerzu eingeschlafen: „Ich schlief im Sitzen und im Liegen, niemand weckte mich auf, und es war das erste Mal in meinem Leben, daß man mir meinen Rhythmus ließ.“ Für Thomas Schramm gab es 1984 die „letzte Entscheidung zwischen dem Rollstuhl und dem Versuch mit Feldenkrais“. Die Hüfterkrankung, an der die Schulmedizin bis dahin in allen Bereichen versagt hatte, verschwand. Heute unterrichtet der staatlich geprüfte Physiotherapeut vor allem Unfallopfer und Schwerbeschädigte in der Feldenkrais-Methode und erzielt damit erstaunliche Erfolge. Für Anne Mess und Thomas Schramm ist Feldenkrais in erster Linie „sehr real“. Es gibt keine Ideologie, keine esoterisch-universellen „Verschmelzungen“ und – bei aller Verehrung für Moshé Feldenkrais – keinen Guru. Es gibt im Feldenkrais das Gefühl der Geborgenheit und der Wärme, es kann aber nach dem Lösen bestimmter körperlicher Verspannungen genauso zu Tränen und Erschöpfungszuständen kommen. Darüber aber redet man nicht. Es gibt keinen Therapeuten, der den Schüler „auffängt“, Vergangenheit und Traumata werden in einem psychoanalytischen Sinne nicht verarbeitet. Feldenkrais arbeitet ohne Schmerzen und ohne äußere Anstrengung, will aber die Entspannung nicht als höchstes Ziel verstanden haben. Der Schüler soll begreifen, berühren, bewegen – lernen. Moshé Feldenkrais hat das „bewegliche Gehirne“ genannt. Für Anne Mess und Thomas Schramm steht am Ende jeder Übungsstunde die Anforderung an den Schüler — und an sich selbst: „Geh hinaus und gestalte dein Leben.“ Judith Hermann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen