: Leben an Grenzen
■ R.Brodman über eine skurrile Schweizer „Kopfgeburt“
(„Kulturwelt“, Dienstag, ARD, 23.15 Uhr) Der Modergeruch vom vorigen Jahrhundert umweht die „nationale Frage„; sie war in Deutschland immer eine Hauptbastion der Rechten, und vielen Linken, die sich ihr schutzlos näherten, hat sie ideologisch den Hals gebrochen. Das verschwiemelte „Mitteleuropäertum“ von Lettre etwa, der Zeitung für Europa in den Grenzen von 1942, ist Beleg dafür und ebenso die Schwierigkeit, die manche Tageskommentatoren mit den Ereignissen am Berliner Kubat-Dreieck haben: Nicht Nato gegen Warschauer Pakt stehen hier so schön übersichtlich festgeblockt, sondern das Prinzip der freiwilligen Assoziation von Menschen aller Länder gegen den Gasgranaten schießenden westdeutschen Polizeistaat - und die DDR befindet sich dieses eine Mal auf „Unfreiheit„-Seite: Da kommt der ewige Antikommunist ganz schön ins Rotieren, wie er das erklären soll.
Aber wahrscheinlich muß man Schweizer sein, wie der Historiker Markus Kutter aus Basel, Grenzgänger und selbstverliebter Regionalist, um ein genaues Gefühl dafür zu haben, was eine Grundtendenz erst der neunziger Jahre werden wird: das allmähliche Verschwinden der nationalen Grenzen aus Europa. Kutters Vorschlag ist, von Roman Rotmanns Filmen originell unterstützt, manchmal fast persifliert, die Bildung eines alemannischen Regionalstaates am Oberrhein zwischen Basel, Freiburg und Colmar. Diese Idee ist nicht neu: Die badisch-elsässischen Bürgerinitiativen um Whyl begannen damit vor Jahrzehnten die politische Aktion gegen Atomkraftwerke, und viele Sympathisanten hielten damals den „Regionalismus“ für mehr oder weniger hinterwäldlerisch; und vor allem weil sich kein Mensch seinen Geburtsort aussuchen kann, und deshalb die zufällige Zuordnung zu Alemannen, Sachsen oder Ostfriesen doch nur wieder eine zwanghafte, von außen bestimmte Einordnung des Individuums in nicht selbst gewählte Kollektive bedeuten würde. Wir wollten aber „Weltbürger“ sein, in Rom und Indien genauso zu Hause sein wie in Malville und Brokdorf und allen Städten des Kampfes für eine friedliche Welt. Nun, seitdem ist von diesem stolzen Ideal vieles abgebröckelt, als Norddeutscher etwa findet man weniger inneren Zugang zu Hessen und Schwaben als zu Italienern beispielsweise, aller politischen und sonstigen Einstellungen, von Bayern ganz zu schweigen. Ich glaube, es sind noch viele Jahrzehnte Kreuzberger Schmelztiegel und Rucksack-Tourismus nötig, bis der neue Jugendtypus des Ragazzo del'Europa frei von äußeren und inneren Grenzen endlich entsteht und nicht nur in der Mode von buntem Haar und schwarzer Jacke. Bis dahin verfolgen wir alle Initativen gegen Grenzen- und Autobahn-Erbauer mit Liebe und Hoffnung, denn bei aller Skurrilität, die dem Alemannischen oder dem Kubat-Dreieck anhaften mag, sie machen deutlich, wo die eigentlichen Grenzen verlaufen: Freigewähltes Kollektiv gegen nationale Territorialmacht, Selbstorganisation gegen Staatsgewalt, Witz gegen Befehl, Natur gegen Beton, Solidarität gegen Wasserwerfer, Chaos gegen Gas. Leben gegen den Tod.
Dr.Seltsam
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