Leben am EU-Grenzzaun: Drüben, das ist Europa
Als Spaniens Team zum Elfmeterschießen antritt, stürmen Afrikaner die Grenze nach Melilla. Ihr Versuch scheitert kläglich. Männer wie sie werden in menschenunwürdige Lager gebracht.
Abraham fühlt sich betrogen. Dreißig Tage lang hat er gefastet. Dreißig Tage dafür gebetet, dass Zapatero die Wahl im März gewinnt. "Wir haben alles getan für ihn. Jetzt wollen wir unsere Belohnung. Aber Zapatero hat uns vergessen", schimpft Abraham. Statt endlich in Spanien zu leben, sitzt er fest in Ceuta, der spanischen Exklave in Nordmarokko.
Ceuta ist eine autonome spanische Exklave an der Mittelmeerküste Marokkos. Wie Melilla gehört Ceuta politisch zu Spanien, geografisch jedoch zu Afrika. Die beiden Gebiete sind daher Anlaufpunkte für Afrikaner, die nach Europa wollen. Das 28 Quadratkilometer große Ceuta ist nur 18 Kilometer von der spanischen Küste entfernt.
Der Landweg nach Europa über Ceuta und Melilla ist nur einer der Pfade illegaler Migration aus Afrika. Andere Wege sind die Seeroute aus Mauretanien und Senegal über den Atlantik auf die Kanaren oder über das Mittelmeer von Libyen nach Malta und die italienische Insel Lampedusa. Jedes Jahr sterben auf diesen Wegen mehrere tausend Menschen, die meisten ertrinken auf hoher See. Die Marinepatrouillen der EU-Grenzagentur Frontex in Mittelmeer und Atlantik zwingen Flüchtlingsboote zu immer längeren und gefährlicheren Routen.
Abrahams Lippen verzerren sich zum Schmollmund. Der 24-jährige Sierra Leoner ist enttäuscht vom alten und neuen spanischen Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero. "In meiner Heimat hat man mir erzählt, Zapatero liebe die Einwanderer. Es stimmt, sie behandeln uns gut hier im Flüchtlingslager, aber Papiere habe ich trotzdem keine gekriegt. Was ist das für eine Liebe?"
Abraham ist einer von 2.000 Flüchtlingen, die jedes Jahr in Ceuta ankommen. Etwa genauso viele sind es in Melilla, der zweiten spanischen Exklave. In der Nacht zum Montag versuchten Afrikaner, die Grenze zum spanischen Staatsgebiet zu überwinden. Die Rede ist von bis zu fünfzig Personen. Sie warteten, bis im EM-Spiel Spanien gegen Italien das Elfmeterschießen begann - in der Hoffnung, dass die spanische Guardia Civil durch das dramatische Finale abgelenkt sein würde - und setzten dann über die am Checkpoint wartenden Autos. Doch schon marokkanische Grenzpolizisten hielten die Flüchtlinge auf und verständigten die spanischen Kollegen. Die schlossen eilig das Tor.
Schon in der Nacht zuvor hatten etwa 70 Flüchtlinge versucht, den Grenzposten zu stürmen. Die Ereignisse erinnern an den Herbst 2005. Damals hatten tausende verzweifelte Afrikaner versucht, über die drei Meter hohe Stacheldrahtzäune nach Ceuta und Melilla zu setzen. Elf Menschen starben. Danach wurde der Zaun auf sechs Meter erhöht.
Auch die neue Grenzanlage hält kaum einen Flüchtling ab, den Weg nach Europa zu riskieren. "Die Afrikaner haben eine ganz andere Beziehung zum Tod", meint Javier Ruiz von der Hilfsorganisation CEAR in Tanger, "für sie ist er Teil des Lebens. Wenn die auf dem Weg nach Europa sterben, werden sie in ihren Familien als Helden verehrt."
Tanger, die marokkanische Stadt, eine Autostunde von Ceuta entfernt, ist für viele die letzte Station vor ihrem Versuch, auf spanisches Gebiet zu gelangen. Auch Abraham ist vor fünf Monaten dort angekommen, nach einem Marsch, der eineinhalb Jahre gedauert hat: von Sierra Leone nach Mali, von Mali nach Algerien, dann nach Marokko. Die meiste Zeit war er zu Fuß unterwegs, das letzte Stück von Marokko in die spanische Exklave ist er geschwommen. "Ich habe das extra gelernt", erzählt er. "Ich hatte große Angst vor dem Meer, aber ich habe mir eine Schwimmweste gekauft. Es war die einzige Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Jetzt will ich endlich von hier weg, rüber!"
Drüben - das ist Europa. Nur 18 Kilometer liegen zwischen dem afrikanischen und dem europäischen Spanien. Aber die sind für die Menschen hier im "Centro de Estancia Temporal de Immigrantes", dem Übergangslager für Flüchtlinge, kaum zu überwinden. Vom Lager, das auf einem Hügel liegt, beobachtet Abraham jeden Tag die Fähren, die "rüber"fahren, weiße Punkte im blauen Mittelmeer. Bald will auch Abraham auf solch einem Schiff sitzen. Aber noch wartet er auf den Bescheid der spanischen Behörden, er hofft, dass sie seinen Asylantrag als politischer Flüchtling anerkennen. Noch im Juni will er weg.
"Sie sind wie besessen von ihrem Traum", sagt Valeriano Hoyas. "Nichts kann die Flüchtlinge davon abhalten. Wir versuchen deshalb, ihnen ein realistisches Bild von Spanien und Europa zu vermitteln." Hoyas ist der Leiter des Flüchtlingslagers, das das spanische Sozialministerium finanziert. Die meisten Insassen sind von der Polizei in den Straßen von Ceuta aufgegriffen worden, ohne Bleibe, ohne Papiere. Hier bekommen sie ein Bett, etwas zu essen und medizinische Versorgung. Sie dürfen sich frei innerhalb der Stadtgrenzen bewegen, müssen aber jederzeit für Befragungen zur Verfügung stehen.
Aus den Lautsprechern an den flachen, dunkelgelben Gebäuden schallt ein Aufruf in spanischer Sprache: "Klasse A, bitte in den Klassenraum kommen. Der Spanischunterricht beginnt." Abraham steht auf von seinem Stuhl im Schatten und schlurft durch die sengende Sonne zum Klassenraum. Vorn an der Tafel hängen Bilder von Früchten und Gemüsesorten. An der Wand zeigt eine Karte das gelobte Land Spanien mit seinen Regionen und Provinzen.
Hier trifft Abraham auf all die anderen, die den gleichen Traum haben wie er. Sie kommen aus Ländern südlich der Sahara, aber auch aus Pakistan und Asien. "Wenn sie uns schon ihre Sprache beibringen, dann sollen sie uns auch endlich in ihr Land lassen", schimpft ein Mann um die vierzig in gebrochenem Spanisch. Er wartet seit Monaten auf seinen Asylbescheid, Woche für Woche wird er vertröstet. Er hätte schon längst versucht auf eigene Faust nach Europa zu kommen, erzählt er, aber hier im Auffanglager gehe es ihm nicht schlecht. Sogar ein Kino gibt es. Nur das, wonach sich alle hier am meisten sehnen, bekommt er nicht: ordentliche Papiere.
Dann ist da die ständige Angst, doch abgeschoben zu werden. "Normalerweise dürfen die Immigranten sechs Monate hierbleiben", erklärt Valeriano Hoyas. "In dieser Zeit überprüfen wir ihre Angaben. Dann bekommen sie entweder Papiere, oder sie werden abgeschoben." Das Problem ist: Abgeschoben werden können nur diejenigen, bei denen das Herkunftsland bekannt ist. Die meisten afrikanischen Flüchtlinge aber kommen ohne Papiere, und nur wenige geben freiwillig an, aus welchen Land sie tatsächlich stammen.
"Es kommt immer wieder zu grotesken Situationen", erzählt Paula Domingo Domingo von der christlichen Nichtregierungsorganisation Elín. "Regelmäßig werden die Immigranten Botschaftern afrikanischer Länder vorgeführt. Erkennt einer eine Person als Bürger seines Landes, wird diese Person dorthin abgeschoben." Der Haken: Die Staaten bekommen für jeden Flüchtling, den sie zurücknehmen, Geld vom spanischen Staat. "So finden sich manche Migranten in Ländern wieder, in die sie überhaupt nicht gehören", sagt Paula Domingo Domingo. "Und dann sind sie wirklich verloren." Die meisten machen sich gleich wieder auf den Weg nach Europa.
Abraham lebt mit sechs weiteren Männern in einem 9-Quadratmeter-Zimmer. An den Wänden stehen ihre Stockbetten, zwei oder sogar vier Personen schlafen hier übereinandergestapelt. Auf den Schränken lagern die Koffer, mit denen manche gekommen sind. Geld hat hier kaum einer, sie sind auf staatliche Hilfe angewiesen. Arbeiten ist ihnen verboten. Die meiste Zeit sitzen sie wie Abraham vor ihren Zimmern auf Holzbänken und starren in die Luft oder unterhalten sich - vorausgesetzt, sie sprechen die gleiche Sprache.
Ab und zu macht Abraham einen Spaziergang durch die Straßen der 70.000-Einwohner-Stadt. Schon von weitem kann er am Horizont den Zaun erkennen, der sich über die Hügel rund um Ceuta zieht. In unregelmäßigen Abständen durchbrechen kleine, weiß gestrichene Türmchen die eintönige Landschaft. Hier halten Tag und Nacht Späher Ausschau nach Flüchtlingen.
Die wiederum suchen, weil es immer schwieriger wird, nach Ceuta und Melilla zu gelangen, nach neuen Wegen ins Paradies Europa. Immer zahlreicher werden die Boote, die von Mauretanien oder dem Senegal aus auf die spanischen Kanaren zu gelangen suchen. Immer länger und gefährlicher wird die Überfahrt. Laut Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen starben im vergangenen Jahr mindestens 3.500 Flüchtlinge auf ihrem Weg von Afrika nach Spanien. "Aber viele werden gar nicht gezählt - zum Beispiel die Opfer der sogenannten menschlichen Motoren", sagt Paula Domingo Domingo von Elín.
Der Begriff bezeichnet Marokkaner, die für viel Geld Flüchtlinge schwimmend nach Ceuta bringen. Viele Afrikaner können nicht schwimmen, also lassen sie sich mit einem Seil an einen Marokkaner binden und über die Grenze bringen. "Aber das Schleusen von Flüchtlingen ist ja bekanntlich illegal", erklärt Domingo. "Sobald also ein Schiff der spanischen Küstenwache auftaucht, bindet der Marokkaner seinen Passagier los und macht sich schleunigst aus dem Staub." Bisher gibt es keine verlässlichen Zahlen dazu, wie viele Flüchtlinge auf diese Weise vor der marokkanisch-spanischen Küste ertrunken sind.
Domingo, die Nonne, die sich seit Jahrzehnten in Ceuta engagiert, hat kaum Verständnis für die europäische Einwanderungspolitik. Die neue EU-Richtlinie, die in der vergangenen Woche vom Europäischen Parlament in Straßburg verabschiedet worden ist und europaweit strenge Regeln für die Abschiebung von Illegalen vorsieht, hält sie für eine Katastrophe. "Die europäischen Regierungen sollten endlich anfangen, etwas in Afrika zu ändern, damit die Leute erst gar nicht auf die Idee kommen, nach Europa auszuwandern. Das würde etwas ändern", sagt die zierliche Frau und streicht sich durch die grauen Haare. Denn eines, sagt sie, sei sicher: "Europa kann die Grenzen noch so dicht machen, die Zäune noch so hoch bauen, die Flüchtlinge werden immer Wege finden, die Barrieren zu umgehen. Es wird nur immer gefährlicher für sie."
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