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Le Clézio erhält Literatur-NobelpreisBeim Schreiben ein Genießer

Endlich hat es geklappt: Die Ehrung für den 68-Jährigen Jean-Marie Le Clézio versetzt Paris in einen Taumel aus Jubel und Selbstbeweihräucherung.

Holt den Literaturpreis nach Frankreich: Jean-Marie Gustave Le Clézio. Bild: gallimard

Paris taz Am Morgen des Tages, an dem er den Literaturnobelpreis tatsächlich bekommen soll, es aber noch nicht weiß, sitzt Jean-Marie Gustave Le Clézio morgens in Paris in einem Studio des Radiosenders France Inter. Mit 68 Jahren sieht er immer noch aus wie ein amerikanischer Schauspieler. Typ: eleganter Cowboy. Gerade gehaltener, drahtiger Körper. Ein unter dem zugeknöpften blauen Polohemd sichtbares weißes T-Shirt. Keine Krawatte. Kurze blonde Haare. Unaufdringliches, manchmal verschämt wirkendes Lächeln aus blauen Augen. Selbstbewusst spricht er über seinen "Genuss beim Schreiben". Über Probleme von jungen Autoren, sich Gehör in der Pariser Verlagslandschaft zu verschaffen. Und über Parallelen zwischen der internationalen Lage in den 30er-Jahren und heute. Zugleich relativiert er sich selbst. "Langfristig sind wir alle tot. Mittelfristig haben wir alle Probleme", sagt er. Typisch Le Clézio.

Drei Stunden später formuliert die Akademie in Schweden, warum sie ihn in diesem Jahr ausgewählt hat. Er ist "Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase. Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation." Le Clézio zeigt in einer ersten Reaktion seine "aufrichtige Freude". Und Paris verfällt in einen Taumel von Jubel und Selbstbeweihräucherung. In Paris gilt Le Clézio schon lange als "nobelisierbar". Jedes Jahr im Herbst nennen ihn die Literaturexperten aufs Neue als einen der bestplatzierten Kandidaten. Nachdem es dieses Mal geklappt hat, haben es alle schon längst gewusst. Im Glückwunschschreiben aus dem Élysée-Palast, versucht sich der Staatspräsident an einer Hymne an den 14. französischen Literaturnobelpreisträger. Nicolas Sarkozy nennt den Schriftsteller ein "Kind von Nizza und Nigeria", einen "Weltbürger" und "Sohn aller Kontinente und Kulturen".

Le Clézio ist von allem etwas. Und zugleich Lichtjahre von dem literarischen und politischen Paris entfernt, das ihn jetzt zu vereinnahmen sucht. Er kam im Frühjahr 1940 in Nizza zur Welt. In einer bretonischen Familie, die vor dem Terror der Französischen Revolution bis nach Mauritius, östlich von Afrika, geflohen war. In seinem eigenen Leben ist er ein Nomade geblieben. Literarisch und wohnsitzmäßig. Seine Romane spielen in ihrer großen Mehrheit fernab von Paris und oft auch weit von Frankreich und Europa entfernt. Er selbst hat in Afrika und Lateinamerika gelebt. Hat lange Zeiten mit Berbern im Süden Marokkos, mit Indianern in Panama und auf der Südseeinsel Vanuatu verbracht. Hat als junger Mann an englischen Universitäten Literatur gelehrt. Und wohnt seit mehreren Jahren mit Frau und zwei Töchtern im Süden der USA. Angeblich hört er dort weder Radio, noch liest er Zeitung. Doch er ist kein Frankreichflüchtling. Er schreibt auf Französisch. Er besucht das Land seiner Vorfahren oft. Und seine Bücher sind nie weit von den großen französischen und europäischen Themen entfernt.

Schon sein erster Roman, "Das Protokoll" (Le Procès-Verbal), hat dem 23-jährigen Le Clézio 1963 einen Literaturpreis (Renaudot) verschafft. In den seither vergangenen 45 Jahren hat er ebenso viele Bücher veröffentlicht und zahlreiche französische und internationale Literaturpreise erhalten. Immer wieder geht es Le Clézio um universelle Themen wie die Suche nach den eigenen Wurzeln und der Identität. Oder um die Zeit, die vergeht. Und immer wieder verbindet er sie mit aktuellen Themen. Und mit starkem moralischem, manchmal auch politischem Engagement. Oft benutzt er Begegnungen von Menschen und Geschichten von Lebenswegen, die sich ähneln, auch wenn sie zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt liegen.

In "LÉtoile errante" (1992) kreuzen sich Ende der 40er-Jahre die Wege von zwei jungen Frauen auf jenem Territorium, auf dem später der Staat Israel proklamiert werden soll. Die eine ist Jüdin; hinter ihr liegt die Verfolgung in Europa. Die andere ist Palästinenserin. Sie flieht vor den Neuankömmlingen in eine ungewisse Zukunft. In "Le "Désert" (1987) siedelt Le Clézio eine um 60 Jahre versetzte Begegnung in der südlichen Sahara an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führt ein Berberstamm einen "heiligen Krieg". Jahrzehnte später kehrt die junge Marokkanerin Lalla, die eine internationale Karriere als Mannequin begonnen hat, zu den Orten ihrer Vorfahren zurück.

Le Clézio ist oft ein "Zivilisationsflüchtling" genannt worden. Ein "Nomade". Und ein "Abenteurer". Er selbst mag keine dieser Einstufungen. Am wenigsten mag er die letzte, die auch in der Begründung der schwedischen Akademie auftaucht. 2006 erklärt Le Clézio in einem Interview mit der Zeitung Libération: "Ich glaube nicht, dass das Abenteuer heute existiert."

Le Clézio, der oft umzieht und der seine Themen und Geschichten aus allen Kontinenten des Planeten und vielen verschiedenen Kulturen und Sprachen bezieht, sagt von sich selbst, dass er Romane schreibt, weil er "unfähig" sei, "Memoiren zu schreiben. Ich schaffe es nicht, mein eigenes Leben zu betrachten und zu meinen, es wäre interessant."

Tatsächlich taucht sein eigenes Leben und das seiner Vorfahren, die aus Europa fliehen, um Generationen später zurück nach Europa zu kommen, immer wieder in Le Clézios Romanen auf. Genau wie die Epoche, während deren seine Familie in Übersee war: der Kolonialismus. Als vor wenigen Monaten die französische Rechte - angeführt von dem jetzigen Staatspräsidenten - versuchte, die "positiven Beiträge der Kolonisierung" im Schulunterricht zu würdigen, vertritt Le Clézio die Gegenthese. Sagt: Der Kolonialismus hat nichts Positives. Relativierend und aus der Vita seiner eigenen Familie, fügt der Schriftsteller hinzu: "Ich habe keinen Anteil am Kolonialismus. Aber ich gehöre zu dieser Geschichte."

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6 Kommentare

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  • SD
    Stefan Dernbach

    In dubio pro Clézio.

     

    Viele hätten den Literaturnobelpreis verdient, aber nur einer kann ihn bekommen. Eine Aufregershow daraus zu machen, ist nichts, als Selbstunterhaltung mit Außenwirkung. Nun kommen viele Kritiker aus ihren Löchern und brüllen:

    "Wie kann man nur?"

    Man hört sie an und hofft, dass sie bald wieder in ihrer Kammer verschwinden.

     

    Stefan Dernbach (Flimmerwelt)

  • L
    Leseratte

    Sicher, der Literatur-Nobelpreis ist eine Institution, die dem Heranführen von Kindern und Jugendlichen an das Medium Buch/ Literatur förderlich sein kann. Allein einen Literaturnobelpreis zu haben, langt aber nicht zum umsatzstarken Buch. Ein Grund, warum sich vermeintliche Ramschliteratur wie Dan Brown oder Ken Follett verkauft wie geschnitten Brot, und andere wahre Literatur nicht. Auch sollte zu bedenken sein, dass der Preis von einer Jury vergeben wird, demnach ebenso subjektiv ausgewählt wird, wie andere Preise mit weniger Intellekt-Prestige. Manchmal kann es auch eine Ehre sein, ihn eben nicht zu bekommen, oder - wie in Sartres Fall - ihn gar abzulehnen. (Ich bspw. empfinde - jetzt mal als Vergleich - den Oscar als Makel für einen guten Schauspieler. Da steht eine zu große antiquierte Lobby dahinter. Ebenso könnte es auch bei anderen Preisvergaben zugehen.) Letztendlich verhilft dieser Preis doch nur dem Autor zu Ruhm unter seinem Klientel und zu einer kleinen Summe für die jahrelangen Mühen. Doch wird er dadurch mehr gelesen? Das bezweifle ich.

  • BW
    bernhard wagner

    @ F.Assungslos: Roth oder Updike - "verdiente" Schriftsteller, das mag ja sein, aber dies Le Clézio abzusprechen, finde ich ziemlich arrogant, und gute Argumente dafür nennen Sie ja keine.

  • S
    Seppel

    Faszinierend vor allem aber, dass bisher außer mir und dem Komitee noch niemandem aufgegangen zu sein scheint, dass weder Roth noch Updike gute Bücher schreiben oder je geschrieben haben. Naja, aber noch kann das ja was werden, wenn sich die Herren ein Bisschen ranhalten.

  • R
    radh

    Wir haben Böll und Grass auch überschwenglich gefeiert.

    Aber warum müssen sich unter den brutal hart arbeitenden herausragenden Naturwissenschaftlern immer zwei oder drei Geld und Ehre teilen? Das wirkt doch ein wenig als wären herausragende Naturwissenschaftler im Übermaß vorhanden und im dutzend billiger. Dagegen gibt es jedes Jahr weltweit immer genau ein literarisches "Genie".

    Man würde denken, es gäbe eher zuviel Romanautoren auf der Welt.

  • F
    F.Assungslos

    Faszinierend, wie das Nobel-Kommittee immer wieder mehr oder weniger obskure Literaten (an dieser Stelle eine präventive Entschuldigung an den 17 Mitglieder zählenden Le Clézio Leserkreis) entdeckt und als menschgewordene Ohrfeige gegen verdiente Schriftsteller wie Philip Roth oder John Updike verwendet.