Lauern & abdrücken: der ideale Moment

■ Der Photograph Heiner Schilling erklärt das urbane Chaos / Oldenburger Kunstverein zeigt „NeoKomplexCity“

Heiner Schilling liebt das Understatement. Wenn er über seine Photographie spricht, dann technisch. Ästhetik – das scheint für ihn eher so etwas wie ein Zufallsprodukt zu sein. Ein Jahr lang hat Schilling diesen Zufall in Tokio walten lassen, als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes. Der Oldenburger Kunstverein zeigt mit „NeoKomplexCity“ jetzt einen Ausschnitt der Tokyoter Werkserie „The Entropic Forest“.

Mit der Großbildkamera hat Schilling geduldig auf Hochhausdächern, in Penthouselounges und Aufzügen auf „den idealen Moment“ (Schilling) gelauert: Wenn das Licht stimmt, die Reflexionen zweite Bildebenen schaffen, die Menschen den richtigen Platz eingenommen haben. In seinen Großaufnahmen – 180 x 225 cm, abgezogen in Diasec – ist die Großstadt ein eigenes ästhetisches Gefüge, der Mensch verdinglicht sich als Artefakt in der von ihm geschaffenen Welt. Mal verschwimmt er in der langen Belichtungszeit, wird nur Schatten seiner Bewegung, mal taucht er nur als Hinterlassenschaft auf. In der Aufnahme eines Wohngebietes etwa, das menschenleer ist. Nur Grabsteine auf dem Friedhof verweisen da auf Individuen, die diese Stadt geschaffen haben. Ein globalisierter Großraum, als abgelöstes Massenprodukt des Menschen, der sich selbst darin zurück lässt.

Absurde Leere: Auf einem Rietfeld säumen neufabrizierte Lieferwagen den Horizont, der das obere Bildviertel abgrenzt. Ein schmaler Streifen Himmel bleibt, in den gerade ein Flugzeug einfliegt. Im Bildvordergrund verläuft eine Mauer, an der sich der Blick stößt. Davor ein Mann, der uns den Rücken zuwendet um sich einen Apparat anzuschauen. Im Rietfeld selbst stehen Männer an einem offenen Kofferraum.

Absurde Leere, gesichtslose Menschen, unerklärliche Aktivitäten. Jedenfalls kein Entrinnen. Schillings Arbeiten sind hochformal, auch wenn er das nicht zugibt. Er spürt Tableaus auf, in denen alles stimmt. Die „Bay Bridge“ von Yokohama (1997) zeigt Hochstraßen, die zum Teil auf die ferne Hängebrücke zulaufen. Darunter: Die gleichen neufabrizierten Lieferwagen, uniform, sorgsam aufgereiht. Bestechende Linienführung, Staffelungen in die Tiefen hinein, die perfekt ausgeleuchtet und rattenscharf sind – mit diesen geordneten Zufällen erklärt Schilling die innere Ordnung des scheinbaren urbanen Chaos.

Und der perfekte Moment, das ist der, in dem sich diese Ordnung selbst erklärt, als gegenseitige Durchdringung aller Ebenen. „Sky Garden“ entstand 1997 vom Yokohama-Turmrestaurant aus. Es zeigt einen Blick über die nächtliche Stadt, zugleich spiegelt sich die Restaurantszene im Fenster. Das Panorama wiederum findet in der verspiegelten Decke seinen Reflex. Diese gegenseitige Durchdringung schafft eine malerisch durchleuchtete Szene, in der alle urbanen Lebensräume sich aneinander erklären. Schillings Photographien sind kolonisierte Welten, in denen der Mensch als Urheber nur noch in seinen Produkten präsent ist. So gelesen beängstigend schöne Szenarien. Marijke Gerwin

Bis zum 19. Mai im Oldenburger Kunstverein, Damm 2a. Di – Fr. von 14 bis 17 Uhr, Sa + So von 11 bis 17 Uhr.