: Lass die Sonne rein
Das achte „Live Art Festival“ auf Kampnagel will aus dem künstlerischen Formatknast ausbrechen. Der Auftakt am Donnerstag war schon mal sehr vielversprechend
Von Robert Matthies
Ein Lächeln ist es, das in Bobby Hebbs Soul-Klassiker „Sunny“ von 1966 die düsteren, wolkenverhangenen Tage und den Schmerz über den kürzlich verstorbenen Bruder vertreibt. Ein Lächeln im Gesicht haben auch die neun Tänzer*innen im gleichnamigem Stück des israelischen Choreografen Emanuel Gats immer wieder, mit dem am Donnerstagabend in der großen K6-Halle das achte „Live Art Festival“ auf Kampnagel eröffnet wurde.
Tatsächlich ist „Sunny“, das Gats mit dem französischen Elektromusiker Awir Leon entwickelt hat, der selbst acht Jahre lang in Gats Company getanzt hat, ein frühlingshaftes Stück über einen gemeinsamen Aufbruch: Eine offene Versuchsanordnung zwischen Live-Konzert und Tanzperformance, in der Awir Leons sanft-sonnige Soul- und Elektrosounds den Klanghorizont bilden, vor dem die Tänzer*innen immer neue Konstellation von Nähe und Distanz zueinander ausloten, allein, zu zweit oder in der Gruppe immer neue Bewegungsmöglichkeiten skizzieren, verwerfen und den nächsten Anlauf proben.
Leichtfüßig mutet die virtuos getanzte Choreografie an, ohne dabei leichtfertig zu sein. Denn Gat eröffnet seinen Tänzer*innen vor allem einen Raum, in dem sie ihrer Individualität und Kreativität freien Lauf lassen können, sich aber auch in höchster Aufmerksamkeit auf die anderen einlassen müssen: ein gemeinsames Spiel mit Möglichkeitsräumen, angetrieben vom Vertrauen in die Autonomie sich selbst steuernder choreografischer Strukturen.
Gats Markenzeichen ist Entkopplung und Öffnung von Formatiertem: Auch Tanz und Musik, davon ist er fest überzeugt, können unabhängig voneinander existieren. Auch an diesem Abend auf Kampnagel gibt es immer wieder Momente, in denen Leon allein singt und spielt oder die Tänzer*innen ohne Musik tanzen. Die wahre Choreografie findet bei Gats im Spannungsfeld zwischen Tanz und Musik, zwischen Tänzer*in und Tänzer*in statt. Diese Idee, Formate von Bekanntem zu entkoppeln und für Neues zu öffnen durchzieht in diesem Jahr das ganze Festival.
Auf, unter und rund um eine irgendwie verdreht auf den Platz vor dem Kampnagel-Eingang kopierten Modell-Variante der K6-Tribüne, die das Hamburger Künstlerduo We are Visual als Teil einer temporären Festivalarchitektur gebaut hat, hatte zuvor das Kollektiv Bubblegum Club aus dem südafrikanischen Johannesburg das Festival eingeleitet: mit einem Redebeitrag, Live-Painting und einem kleinen Konzert der südafrikanischen Sängerin Purity Zinhle Mkhize alias Pure.
Auch dort: viel Sonne, viel Lächeln und viel Leichtigkeit. Dabei ist das, was der Bubblegum Club im Anschluss drinnen in der Halle P1 präsentierte, alles andere als eine sonnig-leichte Thematik. Denn das 2010 gegründete Kollektiv, das sich als Plattform für Jugendkulturen, Modeschöpfer*innen, Musiker*innen, bildende Künstler*innen und künstlerische Urbanist*innen versteht, die oft keinen Zugang zu institutionellen Strukturen haben, beschäftigt sich in seinem „Infinity Studio“ mit einer komplexen Landschaft, die sich zwischen der Militarisierung und Privatisierung des urbanen Raumes eröffnet.
Eingeladen hatte das Netzwerk 16 südafrikanische Künstler*innen zu einer immersiven Stadttour durch das Post-Apartheid-Johannesburg: zu einer Gated Community etwa, zum Set einer Seifenoper oder durch die belebte Shopping-Straße Small Street in Johannesburgs Business-Distrikt, in der vor allem gefälschte Produkte und chinesische Importe verkauft werden.
Im Anschluss entstanden Videoarbeiten, Performances und Musik, die sich mit Gentrifizierungsprozessen auseinandersetzen und nun rund um eine nach außen offene, in der Mitte aber durch ein Gatter unterteilte Insel als Bühne präsentiert werden.
„Als wir begannen zusammenzuarbeiten“, erzählt Jamal Nxedlana, einer der Gründer des Bubblegum Clubs, „hatten wir andere Bedingungen als heute vorgefunden, sehr inspirierende Bedingungen, die einen sehr offenen Ansatz kultureller Produktion ermöglichten. Diese Energie wollten wir wie in einer Zeitkapsel noch einmal herstellen und erlebbar machen.“
Dabei setzt sich auch das dreistündige, quasi aus Episoden zusammengesetzte „Infinity Studio“ vor allem mit der Öffnung und Entkopplung von Formaten und der Erkundung von Möglichkeiten auseinander, klassische Formate wie Seifenopern oder Produktpräsentationen subversiv zu unterlaufen – mit einem Lächeln im Gesicht, aber diesmal ist es ein sardonisches.
Live Art Festival #8: bis Sa, 16. 6., Kampnagel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen