Lampedusa: Vorbild Glinde
Im schleswig-holsteinischen Glinde leben Flüchtlinge in einer Moschee und im Reihenhaus. Hier gibt es keine Kontrollen, sondern Unterstützung von der Gemeinde.
HAMBURG taz | Hamburg fühlt sich für Abubakar, den alle nur Abu nennen, ganz weit weg an. Dabei steht der 40-Jährige nur rund 20 Kilometer entfernt im Kellerraum einer Moschee im schleswig-holsteinischen Glinde. Auf dem Boden liegen Matratzen, Decken und Koffer. Tische und Stühle sind zur Seite geschoben, um mehr Platz für die Schlaflager zu schaffen. Gemeinsam mit zehn weiteren sogenannten Lampedusa-Flüchtlingen hat Abu hier Zuflucht gefunden.
In Hamburg lebte der 40-Jährige auf der Straße. „Wir haben in der Europapassage geschlafen – irgendwie“, sagt Abu. Dann zieht er seine Knie an die Brust und legt die Hände flach aufeinander zwischen Wange und Schulter, um zu zeigen, wie er sich in eine Ecke kauerte, wenn er einen trockenen Schlafplatz gefunden hatte. Zwei Monate lang schlief er so jede Nacht – bis im Mai ein Mitglied der islamischen Gemeinde Glinde auf die Flüchtlingsgruppe aufmerksam wurde und sie in die Moschee einlud. „Es war für mich wie im Himmel“, erinnert sich Abu. „Ich war so erschöpft, dass ich einen ganzen Tag geschlafen habe.“
Die Moschee, ein großes, weiß verputztes Reihenhaus, liegt mitten in einem ruhigen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern. Großdemonstrationen, Auseinandersetzungen mit der Polizei und rassistische Personenkontrollen gibt es in Glinde nicht. Die Flüchtlinge zeigten ihre Papiere freiwillig beim Ordnungsamt vor und gaben sogar ihre Fingerabdrücke ab – das verweigern die Flüchtlinge in Hamburg bisher aus Angst vor einer sofortigen Abschiebung nach Italien.
Anders in Glinde: „Wir haben von Anfang an einen kooperativen Weg mit den Behörden eingeschlagen“, sagt der Anwalt der Flüchtlinge, Burkhard Peters. Für seine elf Mandanten hat Peters eine Aufenthaltsgenehmigung oder hilfsweise eine Duldung beantragt. Die Chancen auf Erfolg stünden gut, glaubt Peters, der auch als Abgeordneter der Grünen im Landtag von Schleswig Holstein sitzt. „Es gibt viele verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die besagen, dass eine Rückführung der Flüchtlinge nach Italien aus humanitären Gründen unzumutbar ist.“
Ein Argument, das auch von Kritikern der Hamburger Flüchtlingspolitik geäußert wurde, das im Senat jedoch auf taube Ohren stieß. Den Anwalt überrascht das nicht: „Hamburg ist traditionell sehr viel hemdsärmeliger und restriktiver gestrickt.“ Die Ausländerbehörde in Schleswig Holstein sei liberaler. Innenminister Andreas Breitner besuchte die Flüchtlinge gar in der Moschee. „Das ist einfach eine andere Kultur, mit den Flüchtlingen umzugehen“, findet Peters.
In Glinde brachte ihr kooperatives Verhalten den Flüchtlingen einen ersten Erfolg. Die Stadt Glinde registrierte die Männer als Obdachlose und stellte fünf von ihnen ein Reihenhaus zur Verfügung. Abu und fünf weitere Flüchtlinge leben noch immer in der Moschee. Die Stadt renoviert gerade eine alte Polizeistation als neue Unterkunft. „Die Zusammenarbeit mit der Stadt läuft gut“, sagt der Gemeindevorsteher der Moschee, Arif Tokicin. „Die Unterbringung in der Moschee konnte keine Lösung auf Dauer sein.“ Eigentlich sollten die Flüchtlinge nur ein paar Tage bleiben, „sich erholen und duschen können“, sagt Tokicin. „Aus ein paar Tagen wurden Monate.“
Heute seien die Flüchtlinge ein Teil der rund 250-köpfigen Gemeinde. Die muslimischen Männer aus Niger, Ghana oder der Elfenbeinküste beteten oft gemeinsam mit den Gemeindemitgliedern. Überhaupt wurden die Lampedusa-Flüchtlinge in Glinde gut aufgenommen. Drei Lehrerinnen geben den Männern Deutschunterricht, viele Menschen spendeten Kleidung, Lebensmittel und Geld. Der Fußballverein TSV Glinde trainiert mit ihnen. Vor Kurzem gab es sogar ein Fußballturnier. Die Betriebssportmannschaft der Hamburger Polizei spielte gegen die Lampedusa-Flüchtlinge.
„Ich bin sehr stolz auf die Glinder“, sagt Abu. Wenn ihn nun jemand nach seinem Namen frage, heiße er „Abu Glinde“. Doch trotz aller Unterstützung werden ihm die Tage lang. „Oft ist uns langweilig“, sagt Abu in dem offenen Gartenpavillon der Moschee. Das Nichtstun fällt ihm schwer, er würde gern arbeiten. Der 40-Jährige ist immer in Bewegung. Er kippelt mit dem roten Holzstuhl, auf dem er sitzt, steht auf, holt sich einen heißen Tee, setzt sich wieder, nippt an der Tasse und fängt dann an, mit schnellen Worten seine Geschichte zu erzählen.
In seiner Heimat Niger war er Maler. Als es keine Arbeit mehr gab, zog Abu weiter nach Libyen, um seine Familie ernähren zu können. „Meine Frau und ich haben zweimal Zwillinge bekommen“, sagt der 40-Jährige und lächelt bei dem Gedanken an seine Familie. „Heute bin ich glücklich, wenn ich sie anrufen kann.“ Ein Foto von Frau und Kindern hat er nicht. Eine Bombe traf während des Bürgerkrieges in Libyen das Haus, in dem er lebte. „Da war keine Zeit, um irgendetwas mitzunehmen.“ Das Boot nach Lampedusa erschien ihm als der einfachste Weg zu einem besseren Leben. „Wir hatten Glück, dass wir die Küste erreicht haben“, sagt Abu und blickt auf die Tischplatte. „Zu viele Menschen sterben im Meer.“
Fast jeden Abend können die Männer auf dem großen Fernseher im Keller der Moschee neue Nachrichten von Schiffsunglücken vor der italienischen Insel sehen. „Durch die schrecklichen Ereignisse hat sich der Fokus von Medien und Politik auf dieses Problem gerichtet“, glaubt Anwalt Peters. Der Druck von Kirchen, Bürgern und Gewerkschaften auf den Hamburger Senat steige. „Ich glaube nicht, dass der Senat seine harte Linie auf Dauer durchhalten kann“, sagt Peters. Auch für die Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg müsse nun eine Lösung gefunden werden – ohne Abschiebung in ihr Erstaufnahmeland Italien. „Dort ist die Situation einfach katastrophal“, sagt Peters.
Auch Abu möchte nicht nach Italien zurück und auch nach Hamburg zu den anderen Lampedusa-Flüchtlingen fährt er nur selten. „Ich möchte einfach nur in Glinde bleiben.“
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