: Lästige Wiedervereinigung: „Auch noch die DDR am Hacken“
■ Gewerkschaften fangen an, der deutsch-deutschen Entwicklung nützliche Seiten abzugewinnen / Wunschzettel für neue Verfassung diskutiert
Gestandenen Gewerkschaftern fällt zur (Wieder)Vereinigung bislang wenig ein. Im Gegenteil: Sie ist ihnen vor allem lästig. Krasser noch: „Ich beobachte unter Kollegen vor allem Angst. Im Grunde wollen sie die Einheit nicht. 'Was sollen wir uns jetzt auch noch die Probleme der DDR an die Hacken holen‘, ist eine weitverbreitete Haltung in Betrieben und Gewerkschaften‘,“ bekennt z.B. der Präsident der Bremer Angestelltenkammer, Bernhard Baumeister, und ergänzt: „Chancen für ihre eigenen Interessen und Forderungen der Gewerkschaften hier sieht kaum jemand im Zusammenhang der deutsch-deutschen Einigung.
Auch der Bremer IG Metall-Sekretär Manfred Muster weiß: „Auf Betriebsversammlungen lockt das Thema Staatsvertrag niemand hinter dem Ofen vor.“ Verbreitete Haltung sei - auch unter Betriebsräten und Vertrauensleuten: Die DDR hat Währungsunion und Marktwirtschaft gewollt, jetzt soll sie sehen, wie sie damit klar kommt.
Für sich selbst nimmt der Bremer IG-Metall-Funktionär allerdings mehr Weitblick in Anspruch. Wenn es nach Muster geht, mischen sich die Gewerkschaften nach Kräften auch in den Prozeß der deutschen Einigung ein.
Eines der Felder solcher Einmischungsstrategien diskutierten auf Einladung der „Akademie für Arbeit und Politik“ an der Bremer Universität Gewerkschafter mit Bremens Justizsenator Volker Kröning. Ihr Thema: Gibt es Chancen für eine neue (gesamt)deutsche Verfassung, und wie müßte sie aussehen?
Der Wunschzettel der Gewerkschaftsvertreter ist lang und diffus. Schließlich gibt es kein Feld gewerkschaftlicher Auseinandersetzung, das sich nicht irgendwie zum Verfassungsproblem erklären ließe: Umweltschutz, betriebliche Mitbestimmung, Abrüstung, die Gleichberechtigung von Frauen, der Schutz sozialer Minderheiten bis hin zur „Systemfrage“, die auch in einer neuen Verfassung „offen gehalten werden müsse“. Für Manfred Muster ist der Sozialimus z.B. noch lange nicht erledigt. Seine wichtigste Forderung an eine neue Verfassung: „Nachdem Deutsche Bank und Daimler Benz jetzt auch in der DDR die Macht übernommen haben, muß unser Ziel der Ausbau von Mitbestimmungsrechten sein.“
Chancen, „dem Staat endlich klar zu machen, daß er bei der Entscheidung über Schwangerschaftsabbrüche rein gar nichts zu suchen hat,“ sieht die Münchener Feministin, Heide Hering bei einer Verfassungsdebatte. Hering, die für die Humanistische Union auf dem Podium saß, geht auch die DDR -Fristenregelung nicht weit genug: „Unsere provokante Forderung an eine neue Verfassung: Das Grundrecht auf Abtreibung.“
Vor allem den Schutz von Minderheiten, ein von der Verfassung garantiertes Recht auf Arbeit und Wohnung wünschte sich ein Krupp-Atlas-Elektronik-Betriebsrat. Und auch Arbeiterkammer-Präsident Baumeister sieht in einer breiten Verfassungsdiskussion vor allem Chancen, soziale Fragen, z.B. die eines Mindesteinkommens, aufzuwerfen.
Derartigen Strategien, „die Diskussion mit einem Bauchladen von Wünschen“ zu eröffnen, gibt Bremens Justizsenator Volker Kröning allerdings wenig Chancen. Kröning: „Wir müssen davon ausgehen, daß wir hüben wie drüben in der Minderheit sind. In beiden deutschen Staaten gibt es im Augenblick Mehrheiten gegen eine Veränderung des Grundgesetzes.“ Krönings Plädoyer: Die Zustimmung zum Staatsvertrag auf DDR-Seite drüben wie auf SPD-Seite hüben von der Fortschreibung des Grundgesetzes in ein paar entscheidenden Punkten abhängig und mit ihnen die Verfassungsdebatte zu einem Wahlkampfthema machen. Vorschläge Krönings für eine „mehrheitsfähige“ Überarbeitung des Grundgesetzes: Umweltschutz in der Verfassung verankern, Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Zivildienst und Neufassung von Frauenrechten.
K.S.
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