: Lächeln ist Luxus
Die traurige, aber unsentimentale Geschichte vom Kindergartenlehrer im armen Norden Frankreichs: Bertrand Taverniers „Ça commence aujourd'hui“ ■ Von Brigitte Werneburg
Bunt sind nur die Kinder. Bunt nicht nur in ihren Kleidern, sondern bunt in ihren Gesichtern, ihren Mienen und Gesten. Die einen sind scheu, und ihr Lächeln huscht nur über das Gesicht. Andere sind konzentriert, in sich selbst versunken. Und wieder andere strahlen einfach in rundum kindlicher Selbstzufriedenheit. Das einzige erwachsene Gesicht unter ihnen gehört Daniel (Philippe Torreton), dem Kindergartendirektor, dessen Geschichte Bertrand Taverniers Wettbewerbsfilm „Ça commence aujourd'hui“ erzählt.
Die Landschaft entlang der Straße, die der Direktor jeden Tag zum Kindergarten fährt, dagegen ist grau und flach. Sie ähnelt ein wenig den schüchternen Kindern, wenn sie ein glutroter Sonnenuntergang verschönt, so wie ein Lächeln die Kinder hübsch aussehen läßt. Die Arbeitersiedlungen freilich, aus denen die Mehrzahl der Kinder kommt, sehen nur hoffnungslos deprimierend aus. Daß sie im Winter kalt und ungeheizt sind, daß es kein Licht gibt, weil die meistenteils arbeitslosen Mieter ihre Stromrechnungen nicht bezahlen können, erfährt der Lehrer, als er eines Tages ein Kind nach Hause bringt. Die Mutter, die mit dem kleinen Bruder im Kinderwagen vorbeikam, um Laetitia abzuholen, war völlig betrunken zusammengeklappt und dann davon gerannt.
Jetzt steht Daniel mit Laetitia und dem verdreckten Baby da und weiß nicht so recht, was tun. Die Fürsorge beantwortet seinen Anruf mit Auflegen des Hörers. Im Gegenzug wirft er die Sozialarbeiterin am nächsten Tag aus seiner Schule. Mit diesem kleinen Vorfall kommt Taverniers Geschichte ins Rollen.
Sie ist kein Drama, obwohl sie doch eines erzählt. Aber Tavernier hat sich für eine Form entschieden, die dem Dokumentarfilm sehr viel näher steht als dem Spielfilm, der „Ça commence aujourd'hui“ zweifellos ist. Tavernier beläßt seiner Geschichte die Alltäglichkeit, auch wenn er sie dramaturgisch verdichtet. Aber er bleibt den größten Teil seines Filmes im Kindergarten, beobachtet die Mädchen und Jungen beim Spielen, Erzählen, Singen; er beobachtet die Lehrerinnen bei der Arbeit, die Sozialarbeiterin, die es dann doch schafft, in den Kindergarten zu kommen, den Funktionär des Erziehungsministeriums.
Nur hin und wieder verläßt Taverier diesen Schauplatz, um seine Geschichte voranzutreiben. Daniel bekommt Kontur, eine Freundin, die Bildhauerin und Gastwirtstochter ist und die einen unehelichen Sohn hat, mit dem sich auseinanderzusetzen er auch noch gezwungen ist. Eltern, die er zum Umzug drängt, obwohl der Vater die alte Wohnung nicht verlassen will. So bekommen die Kinder Mütter und Väter – der von Laetitia etwa führt den Kindern in einer hinreißenden Szene seinen Kran vor. Und die Stadt ihre Honoratioren und ihren kommunistischen Bürgermeister, dessen frühere Wähler nun auf die Front National setzen.
Es ist bemerkenswert, auf welch gelassene Weise es Tavernier gelingt, die schiere Düsternis wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Armut bei den Erwachsenen und deren Folgen auf die Kinder, in eine tatsächlich filmische Sozialreportage zu übersetzen, ohne daß diese je – vielleicht ein wenig gegen Ende – lastend wird. Seine französisch rationale und eben nicht sentimentale Einstellung zu Fragen der Erziehung und Kindheit macht, daß selbst das neue britische Kino gegenüber „Ça commence aujourd'hui“ noch ungeheuer hollywoodnah aussieht.
Regie: Bertrand Tavernier. Mit Philippe Torreton, Maria Pitarresi, Nadia Kaci u.a. Heute, 12 Uhr Royal Palast, 20 Uhr International, 23.30 Uhr Urania
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