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La Motz

Undercover S-Bahn-Fahren. Eine Kurzgeschichte von STEPHAN ZEISIG

„Float like a feather in a beautiful world.“ Diese Lebensweisheit mir in meinem Kopf festsurrend, betrat ich die S 7 von Ahrensfelde nach Potsdam Hauptbahnhof. Es war vollbracht. Ich war drin. Und das nicht einfach so. In mir trug ich ein Vorhaben: Dem Volk wollte ich auf den Mund starren, mal hören, was das Proletariat so dachte. Dazu bot es sich an, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Da ließ es sich den Gesprächen zuhören. Das war immerhin erfolgsversprechender, als darauf zu setzen, in den Autos der Leute mitfahren zu können. Meistens durfte man nicht mit, selbst bei solch ehrlichen Nachfragen: „Hallöchen! Ich würde Sie gerne bei Ihren Gesprächen belauschen. Darf ich mit?“

In der S-Bahn dagegen wurde jeder befördert, sofern er über einen gültigen Fahrausweis verfügte. Selbst Gerhard Schröder griff vor wichtigen Gesetzesvorhaben gern auf dieses Angebot zurück. Wollte er zum Beispiel wissen, ob die Deutschen für oder gegen die Ökosteuer waren, BSE gut oder schlecht fanden, kaufte er sich eine Tageskarte und pendelte immer zwischen Zoo und Alex hin und her. Bis Wuhletal fuhr er nicht, da er die Marzahner eh an die PDS und NPD abgeschrieben hatte. Hermannstraße in Neukölln war auch nicht nötig, solange die Türken noch nicht wahlberechtigt waren.

Nachdem ich Platz genommen hatte, begann ich, mein Erscheinungsbild so zu präparieren, dass ich ungefährlich wirkte. Ich durfte ja nicht den Eindruck vermitteln, mich für die Gespräche zu interessieren. Sonst setzten sich die Fahrgäste erst gar nicht zu mir oder würden, wenn doch, ein Stillhalteabkommen vereinbaren und bis zum Aussteigen nichts mehr von sich geben.

Meine Tarnung bestand aus der französischen Tageszeitung Le monde, von der ich zwar nur den Ergebnisspiegel im Sportteil verstand, mit deren Hilfe ich mich aber als Franzose ohne Deutschkenntnisse ausweisen würde.

Die ersten, die mir gegenübersaßen, waren ein Pärchen. Womöglich waren sie es aber auch nur gewesen. Sie schienen sich gerade gestritten zu haben. Zwischen Ostbahnhof und Lehrter Bahnhof, wo sie ausstiegen, fiel kein Wort. Das einzige Lebenszeichen waren ihre nicht fürs Küssen in die Welt gesetzten Mundpartien.

Auf mich wirkte das Verhalten ein wenig seltsam, ja sogar künstlich. Zumindest von ihr hätte ich ein bisschen mehr Aktionismus erwartet. Diese öffentliche Zurückhaltung wurde dem Wesen eines Mädchens nicht gerecht. Aus jahrelanger Erfahrung weiß ich, dass Mädchen sehr öffentlichkeitsorientiert sind, weshalb sie Streits mit ihrem Freund am liebsten während des Berufsverkehrs auf dem Alex austragen. Aber vielleicht war sie auch gar kein Mädchen, sonder Hermaphrodit. Oder sie sahen mir an, dass ich nicht Franzose war und Deutsch verstand.

Bahnhof Zoo setzten sich zwei Enddreißiger zu mir, vermutlich Studenten. Sie schöpften sehr schnell Verdacht: „Du, Jürgen?!“ „Ja?“ „Ich glaube, der Typ mit Le monde ist gar kein Franzose. Der liest nur den Ergebnisspiegel im Sportteil. Der kann garantiert Deutsch und will uns nur belauschen. Komm, wir reden nicht mehr!“ Mein Einwand, ich könne gar nicht Deutsch, höchstens ein winziges bisschen, stimmte sie nicht um.

Auf die Nächsten müsste ich authentischer wirken, sagte ich mir. Also garnierte ich bei den nächsten beiden Menschen, die mir gegenübersaßen, meine Lektüre mit ein paar eingestreuten Brocken französischen Zungenschlags: „Oh là là! . . . hallo! . . . magnifique! . . . merde! . . . c’est génial ! . . . formidable! . . . extraordinaire!“ Das Ergebnis war nicht das erhoffte: „Oh Gott, ein Russe! Komm, weg hier!“

So kam ich in Potsdam an, ohne auch nur eine Kleinigkeit erfahren zu haben. Ich fuhr wieder zurück. Leider hatte ich es mit einer Taubstummenklasse zu tun, deren Zeichensprache mir nicht wirklich vertraut war.

An der Station Tiergarten kam der Motz-Verkäufer. „Non, Français, ne pas magazine.“ Womit ich nicht gerechnet hatte, er sprach Französisch. Und womit ich noch weniger gerechnet hatte, es gab jetzt eine französische Ausgabe der Motz: „La motz“. Ich kaufte ihm eine ab. Was hätte ich auch sonst tun sollen. Alle S-Bahn-Gäste hatten sich ja ohnehin gegen mich verschworen.

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