Kurzgeschichten aus der Silvester-sonntaz: Bingo!
Ich winselte und krümmte mich zusammen und versuchte mit den Händen meinen Kopf zu schützen, ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, was für einen Mord er meinte.
all the bed things I do / will go up in smoke / and so will I (Ikkyū)
Sie haben mich wieder verprügelt, nach dem Abendessen, im Flur, sie haben mich bespuckt und geschlagen, mir lief das Blut aus Mund und Nase und tropfte auf den Boden, du dreckiger Mörder, du bringst schwangere Frauen um, sagten sie, aber ich habe es nicht getan…
Ich habe diese Frau nicht getötet. Ich könnte so etwas gar nicht tun, ich könnte keinen Menschen töten, ich hatte nur den Wunsch, nach so vielen Jahren auf der Straße endlich einmal wieder im Warmen und Trockenen aufzuwachen. Ich habe sie nicht getötet, außerdem war es nicht meine Idee.
An jenem Morgen weckten mich zwei uniformierte Polizisten, der eine trat auf mich ein, zuerst trat er mir in den Rücken und dann ins Gesicht. Normalerweise tun sie so etwas nicht, sie interessieren sich nicht für Obdachlose. Sie können von uns nichts bekommen, und wenn sie uns verhaften und wegen Landstreicherei einbuchten, können sie das nicht als Heldentat verbuchen. Wie oft schon sind sie an mir vorbeigelaufen, während ich auf dem Bürgersteig lag, aber an diesem Morgen drehte der Polizist aus irgendeinem Grund völlig durch, er schlug mir ins Gesicht und rief: „Du hast es getan, du hast sie umgebracht, gib es zu, du verfluchtes Schwein.“
Ich winselte und krümmte mich zusammen und versuchte mit den Händen meinen Kopf zu schützen, ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, was für einen Mord er meinte, ich hatte weder etwas gesehen noch gehört, ich hatte geschlafen, wenn ich schlafe, können Panzer an mir vorbeirollen, ich werde nicht wach davon, und wenn ich irgendwelche Scheiße sehe, tue ich so, als sähe ich sie nicht, so lebt es sich ruhiger, und ich liebe das ruhige Leben, aber dieses Mal hatte ich wirklich weder etwas gesehen noch gehört, ich wusste nicht, worum es überhaupt ging, aber er schrie mich weiter an und schlug auf mich ein, und dann zog er von irgendwoher eine Pistole, und ich machte mir vor Angst in die Hosen, ich dachte, dieser Irre würde mich abknallen, und ich begann zu flennen, er möge nicht schießen, woraufhin er mir die Pistole hinhielt, und ich nahm sie automatisch, ohne zu wissen, was ich damit tun sollte, und er zog eine zweite Pistole und begann mich anzuschreien, ich solle die Pistole wegwerfen, und ich warf sie weg, und der andere Polizist hob diese Pistole vorsichtig am Lauf auf und steckte sie in eine Plastiktüte.
Auch jetzt kam mir noch nichts verdächtig vor, ich dachte, ein Missverständnis, es handelt sich sicher um ein Missverständnis, sie haben mich mit jemandem verwechselt, alles klärt sich bald auf, sobald sie mich auf die Wache bringen und mich dort vernünftigere Polizisten übernehmen, was bin ich doch für ein Idiot, als würde es vernünftige Polizisten geben.
Erst am nächsten Morgen begriff ich, worum es ging. Irgendein Typ schaute in meine Zelle und sagte: „Hey, du siehst ja gar nicht so gefährlich aus“, und ich sah ihn verdutzt an: „Wer, ich?“, und er lachte und warf mir eine Zeitung zu. Auf der Titelseite war ein Foto von mir, sie führten mich gerade zur Wache ab. Stimmt schon, da stand ein Haufen Journalisten herum, das war mir schon verdächtig vorgekommen, woher kommen all die Journalisten, sogar drei Typen mit Fernsehkameras waren da, aber ich hatte gedacht, dass ständig Journalisten vor den Polizeiwachen und Gerichten herumstehen, sie leben ja vom Unglück anderer, ich habe häufig genug etwas über Morde und Unfälle gelesen, aber jetzt, da ich mich selbst in der Zeitung wieder fand, dämmerte es mir, in welchen Schlamassel ich geraten war, und es packte mich Angst.
Diese und viele andere bislang unveröffentlichte Geschichten von SchriftstellerInnen wie Cees Nooteboom, Sofi Oksanen und Walter Kempowski finden Sie auf 20 Seiten in der vom 31. Dezember 2010. Bebildert ist dieses sonntaz-Spezial mit exklusiven Zeichnungen von 20 IllustratorInnen. Die sonntaz kommt jetzt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo.
Stationen: Popović, Jahrgang 1957, lebt in Zagreb. Dort gründete er eine Underground-Literaturzeitschrift. Zuletzt erschien "Mitternachtsboogie" (Voland und Quist).
***
Silvester: "Wie feiern Sie?" - "Ich werde mit meiner Frau zu Hause sein und genießen: die Musik (von den Berliner Philharmonikern), die Kekse (die sie gebacken hat), unsere Zeit."
Die noch größer wurde und zu Panik anwuchs, als ich las, dass ich die schwangere Frau eines Ministers getötet habe.
Ich hatte von diesem Fall gehört, die ganze Stadt sprach davon, die Menschen waren aufgebracht, sie verlangten nach dem Kopf des Mörders, auch ich hätte den Mörder einen Kopf kürzer gemacht, wer hätte das nicht getan.
Andererseits sind Morde an Schwangeren in dieser Gegend nichts Neues, der bekannteste Fall ist der aus Sarajevo, bei dem die schwangere Frau eines kaiserlichen Thronfolgers getötet würde, deshalb kam es zum ersten Weltkrieg, und der Mörder, sein Name war Gavrilo Princip, wurde später als Held gefeiert, und viele Straßen und Schulen im damaligen Staat Jugoslawien wurden nach ihm benannt.
Aber das hier war etwas anderes, das hatte doch nichts mit Politik zu tun, hier ging es um Raub, welcher normale Mensch würde schon eine Schwangere töten? Ich war es sicher nicht, obwohl es so in der Zeitung stand, es musste ein Psychopath oder ein Junkie gewesen sein, die sind zu allem fähig, nur um an Stoff zu kommen.
Wie könnte ich außerdem, so dachte ich, eine Frau töten, die ich noch nie im Leben gesehen hatte?
Aber es nutzte nichts darüber nachzudenken, denn in der Zeitung stand alles – wie und wo und wann und warum. In den Zeitungen steht immer, was mit uns geschieht und warum, wir brauchen diesbezüglich unser Gehirn überhaupt nicht anzuschalten, wir brauchen nur die Zeitungen lesen und die Sachen kaufen, für die darin geworben wird, und alles ist in bester Ordnung.
Es stand da also, dass ich sie vor drei Tagen getötet habe, in der Tiefgarage des Shoppingzentrums in Novi Zagreb, dass ich ihr dreimal in den Kopf geschossen und dann den Geldbeutel aus ihrer Handtasche geklaut habe und dann abgehauen bin. Die Aufnahmen der Überwachungskamera, die auf den Tatort gerichtet war, sind auf mysteriöse Weise verschwunden, die Polizei untersucht gerade, wie das passieren konnte. Aber, so steht es in der Zeitung, dank der schnellen und gründlichen Ermittlungsarbeit wurde die Person verhaftet – in Klammern wurden mein Name, Vorname und mein Alter genannt -, von der man aus guten Grund annehmen kann, dass sie dieses schreckliche Verbrechen begangen habe und bei der die Waffe gefunden wurde, mit der das Verbrechen verübt worden war.
Bingo!
Und als ob all das noch nicht reichen würde, kam jetzt der Polizist, der mich gestern verprügelt hatte, in die Zelle und sagte: „Hör mal zu, du kannst wählen. Erstens, du gibst alles zu und gehst schön in den Knast. Zweitens, du streitest alles ab und mit sehr viel Glück spricht dich der Richter frei, aber sobald du raus kommst, bekommst du eine Kugel verpasst. Klar?“
Und weg war er.
Eine Zeit lang saß ich auf meiner Pritsche und starrte auf den Boden. Es war nicht nötig mir viel zu erzählen, ich hatte schon verstanden, dass ich in der Patsche sitze, auch wenn ich obdachlos bin, bin ich noch lange nicht hirnlos, ich sehe, was um mich herum passiert, ich sehe, wer welche Autos fährt, wer millionenschwere Häuser baut und wer in den Mülleimern herumwühlt, und mir ist klar, dass Polizei und Richter nicht dafür da sind, meinen Arsch, die Ordnung und die Gesetze zu hüten, sondern die Ärsche jener zu beschützen, die Kohle und Positionen haben, und die dieses Land nach vorne bringen, so wie es in den Zeitungen unter den Fotos dieser Menschen vermerkt ist.
So wie bei dem, dessen Foto unter meinem abgedruckt war. Er baut ein Gebäude im Zentrum der Stadt, ich bettle auf der Straße. Er hat Schwierigkeiten mit dem Bauministerium, ich mit der Polizei. Er schwimmt in Kohle, ich in der Scheiße. Er wird sein Problem lösen, ich nicht.
Das ist kein Pech.
So ist hier der Stand der Dinge.
Während ich den Boden anstarrte, erinnerte ich mich an jenen Film, in dem irgendwelche Indianer Menschen opfern, um die Götter und die Masse zu befriedigen. Ich mochte diesen Film nicht, zu viel Blut, und ich kann Blut nicht ertragen, wie damals, als ein Auto einen Opa auf den Bürgersteig schleuderte und Blut aus seinem Kopf schoss, ich fiel in Ohnmacht, so dass sich die Helfer der Notambulanz um zwei Patienten kümmern mussten, dieser Film hatte mir also nicht gut gefallen, aber eins war schon richtig: Wenn irgendein Mist passiert, muss jemand bestraft werden, damit die Götter und die Masse Ruhe geben.
Und wir wissen, wer die heutigen Götter sind.
Die Masse ist immer dieselbe.
Der Masse ist es egal, wer bestraft wird, es ist nur wichtig, in der Zeitung zu lesen, dass der Schuldige gefasst und bestraft wurde, und gleich geben sie Ruhe. Es geht ihnen besser. Sie haben das Gefühl, in einer normalen Welt zu leben.
Deshalb, aber auch weil ich müde von der jahrelangen Obdachlosigkeit war, und der Wunsch nach einem Dach über dem Kopf überwog, gab ich zu, dass ich diese Frau umgebracht habe. Außerdem verstand ich, dass der Polizist es ernst gemeint hatte. Gefängnis ist immer noch besser als eine Kugel. Das Einzige, womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass die anderen Insassen Leute, die Schwangere ermorden, nicht mögen.
Ich bekam zehn Jahre. Sie verprügeln mich jeden Tag. Jeden Tag spucke ich Blut. Langsam gewöhne ich mich an die Prügel und das Blut.
Draußen ist alles in bester Ordnung.
Die Götter gehen wieder in aller Ruhe ihren Geschäften nach.
Die Masse ist glücklich und zufrieden.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
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