Kurzgeschichte aus Syrien: Ich wartete sieben Minuten
Augenblicke können eine Ewigkeit dauern. Besonders wenn man im Krieg lebt und auf seine Liebste wartet. Was kommt zuerst: Kuss oder Kugel?
Plötzlich ist alles anders. Dein Geist erscheint. Was willst du hier? Jetzt, wo ich gelernt habe, ohne dich auszukommen. Jetzt, wo mich das Leben vom Dasein trennt. Geh weg, lass mich allein. In meinem Herzen ist kein Platz mehr für Dummheiten. Sieben Minuten habe ich auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen. Ich gehe jetzt fort. Tauche ein ins Nicht-da-Sein. Tue das, was auch du getan hast – mit einer Kugel im Herzen. Weißt du es, Liebste? Weißt du, was mir widerfahren ist?
17:55 Uhr
Die abendliche Ruhe strahlte auf mich ab, ein Gefühl der Zuversicht in mir. Ich las gerade meine Körperreste von den Fenstern der umliegenden Häuser, da tauchte sie auf. Meine Nachbarin. Heute ist mein Tag!, wollte ich rufen, ihr mein Unglück mitteilen. Ich wollte ihr mein Herz offenbaren, ihr gestehen, dass ich nicht schlafen kann. Die ganze Nacht habe ich wach gelegen und mir überlegt, was ich ihr heute sagen würde. Sie erschien nicht zum verabredeten Zeitpunkt. Ich wartete sieben Minuten. Sieben Minuten, in denen ich alle Jahreszeiten erlebte. September ohne Fairuz. Winter ohne Regen, Frühling ohne Wein. Weißt du, Liebste, warten ist auch eine Art zu sterben. Warten ist grausamer als der Krieg selbst. Man wartet auf das Schicksal, wartet auf den Tod. Tut nichts anderes, als zu warten. Du weißt es nicht. Weißt nicht, was mir widerfahren ist. Also gehe ich in der Zeit etwas weiter zurück.
17:48 Uhr
Einen Moment lang steht alles still. Die Zeit gefriert in meinen Fingerspitzen. Das Leben – Fetzen von Minuten, die überall auf der Straße liegen und darauf warten, dass jemand mein Unglück wegräumt. Mein Leben, noch jung, balanciert auf dem Gewehrlauf. Ich lege das Leben ab. Übe den Tod voller Liebe und Sehnsucht. Hungrig, frierend trete ich dem Scharfschützen und Schlächter gegenüber, demütig und erhaben. Aber bis jetzt ..., bis jetzt gelingt es mir nicht, dabei Ruhe zu bewahren... Keinem gelingt das mühelos. Verlust will geübt sein. Man muss das Herz schulen. Muss trainieren, jeden Tag ein Stück Seele aufzugeben. Muss sich selbst nach und nach von der Klippe des eigenen Wahnsinns stoßen.
25, lebt in Berlin. Er floh 2012 aus Damaskus. Bald erscheint im Libanon seine Sammlung von Kurzgeschichten aus dem syrischen Bürgerkrieg.
17:49 Uhr
Zuerst denke ich, es sei das Ende eines anstrengenden Tages. Die Erde dreht sich rasend schnell. Ich greife nach der Luft, um nicht zu fallen. Aber die Luft ist leichter als sonst. Ich stürze zu Boden. Oder stürzt er auf mich? Ich umklammere den Boden wie einen wiedergefundenen Teil meiner selbst. Umklammere ihn aus voller Lebenskraft und Todesangst, will ihn nie wieder loslassen. Ich umklammere ihn wie die letzte Offenbarung meiner Geschichte. Wie die erste Sünde seit der Vertreibung aus dem Paradies. Wie die Erde.
Der VW-Skandal könnte eine Wende sein. Technisch haben wir seit Jahren alles, was wir brauchen, um Mobilität für die Zukunft zu denken, sagt Mobilitätsforscher Stephan Rammler. Das Interview lesen Sie in der Titelgeschichte „Wir haben jetzt einen Fukushima-Moment“ in der taz. am wochenende vom 14. November. Außerdem: Ein Jahr nach den Unruhen in Ferguson. Auf Nachtstreife mit der Polizei in Los Angeles. Und: Muss ein Schäfer auch twittern können? Das alles am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
17:50 Uhr
Weißt du, Liebste, das menschliche Gehirn lebt noch sieben Minuten weiter, nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hat. Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen. Mein Körper wird mich in sieben Minuten hinauswerfen. Sieben Minuten – sie sind für einen erfahrenen Träumer genug, um nach allen Niederlagen, nach Vertreibung und frühzeitigem Altern ein neues Leben zustande zu bringen ... Und jetzt? Jetzt muss ich meine sieben Minuten mit penibler Sorgfalt wählen. Der erste oder der letzte Kuss? Abschiedsfreude oder -schmerz? Die erste oder die letzte Rebellion? Inferno oder Tod?
17:51 Uhr
Mein Leben spult sich vor mir ab. Vierundzwanzig Jahre, nichts Aufregendes dabei. Ich war nicht im Louvre. Habe meine Liebste nicht wie versprochen auf einem Platz in Rom geküsst. Habe nicht einmal die Straße überquert, um mich bei der Nachbarin zu beschweren, dass ihr Traum mich noch nie auf dem Balkon besucht hat.
17:52 Uhr
Ich möchte die Luft noch einmal kosten, wieder ein Kind sein, meine Lunge aufblasen wie einen Ballon. Mir kommt der Physiklehrer in den Sinn. Über jeden Zweifel erhaben, hat er behauptet: „Luft ist geschmack- und geruchlos.“ Deshalb dachte ich lange, Luft käme dem Nichts gleich. Was für ein einfältiger Lehrer! Schade um all die Jahre, die ich auf der Schulbank zugebracht habe! Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt. Ich weiß, wie Luft riecht und schmeckt. Inzwischen kann ich sogar jedes Partikelchen Sauerstoff benennen, das ich eingeatmet habe. Und sollte ich jemals wieder zum Leben erwachen, werde ich jedes einzeln einfangen und küssen.
17:53 Uhr
Wie fürsorglich du warst, Mutter! „Lass das Rauchen sein“, hast du immer zu mir gesagt. „Die Zigaretten bringen dich noch um, mein Sohn!“ Ach, Mutter! Wenn die Zigaretten doch das Einzige wären, was uns umbringt!
17:54 Uhr
Sieben Minuten. Warum nicht sechs oder acht? Egal. Deine sieben Minuten, kurzes Leben, brauche ich jetzt nicht mehr. Nimm sie, schenke sie dem Erstbesten, der vorbeikommt. Oder gib sie meiner Liebsten. Vielleicht begreift sie, wie wertvoll meine Zeit ist, und kommt das nächste Mal nicht zu spät. Weißt du es, Liebste? Weißt du, was mir widerfuhr? Ich bin einer Kugel begegnet. Sie ist erfahrener als du und zuverlässiger. Mit deiner Schönheit und Redseligkeit kann sie aber nicht mithalten. Und so wunderbare blaue Augen hat sie auch nicht. Sie ist eigenmächtig in mein Herz gedrungen. Hat sich nicht erkundigt, ob es schon vergeben ist. Sie ist eingebrochen wie ein Dieb in meine leerstehende Wohnung. Meine neue Freundin ist viel weiser als du. Als ich ihr sagte, dass ich auf dich warte und in meinem Herzen kein Platz für sie ist, gab sie eine Antwort, die du dir nie herausgenommen hättest: „Zum Warten ist keine Zeit. Auf morgen verschiebe ich den Kuss von heute nicht mehr.“
Übersetzung der Kurzgeschichte: Leila Chammaa
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