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Kuriose Fundstücke

■ Chabrols Dokumentarfilm über das Vichy-Regime

Ach ja, warum eigentlich nicht mal wieder eine kleine Chabrol- Reihe? Da der Meister mit seinen neuen Filmen seit ein paar Jahren im großen und ganzen allenfalls gediegenes Mittelmaß produziert, gewährt ein Wiedersehen mit Perlen wie „Die Enttäuschten“ (7.6.), „Schrei, wenn du kannst“ (12.6.), „Schritte ohne Spur“ (16.6.) oder „Die Unbefriedigten“ (23.6.; alle in West 3) schon ein geradezu nostalgisches Vergnügen. Mit einem besonderen Zuckerli wartet die WDR-Filmredaktion indes am heutigen Abend auf: der deutschen Uraufführung des ersten (und bisher einzigen) von Claude Chabrol gedrehten Dokumentarfilms aus dem Jahre 1992.

Aber was heißt hier gedreht? Für seine 110minütige Dokumentation über die Selbstinszenierung der französischen Vichy-Regierung in den Jahren 1940–1944 hat Chabrol nicht einen Meter Film belichtet, sondern Unmengen von Wochenschauen und anderen Propagandafilmen gesichtet und daraus einen eigenen Film montiert.

Da rief Marschall Pétain, Präsident des unbesetzten Teils Frankreichs, aber eigentlich kaum mehr als eine Marionette Hitlers, die Franzosen zum Kampf gegen den Bolschewismus an der russischen Ostfront auf, verteidigte die von ihm erlassenen Judengesetze mit dem Hinweis, daß 90 Prozent aller Franzosen „reinrassiger Abstammung“ seien und lobte die exzellente Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei bei der Bekämpfung der Résistance. Zusammen mit jenen inszenierten Sequenzen, in denen die Massen Pétain als Retter Frankreichs zujubeln, entsteht so das homogene (Trug-)Bild eines Volkes von Kollaborateuren.

Die Montage, die nahezu gänzlich ohne Kommentar auskommt, erreicht dabei zwar nicht die Stringenz von Hartmut Bitomskis Film „Deutschlandbilder“, der nach einem ähnlichen Prinzip die „Kulturfilme“ der Nazis analysiert, aber dafür streut Chabrol eine Reihe von eher kuriosen Fundstücken ein, die seinen „Aufklärungsfilm“ zu einer überaus kurzweiligen Angelegenheit machen. An einem grotesken Werbespot für ein Korsett namens „Scandale“ konnte er, scheint's, nicht vorbei, und bei Bildern, die im Zuge der Rohstoffknappheit zum Einschmelzen alter Kinofilme zur Produktion von Nagellack und Schuhcreme aufforderten, wird dem Kinofreak das Herz geblutet haben. Und dann ist da noch der „beleuchtete Schuh“. Weniger ein Modegag als die höchst nützliche Erfindung eines Pariser Schusters, die die Passanten in den – wegen der alliierten Luftangriffe verdunkelten – Straßen vor unliebsamen Zusammenstößen bewahren sollte. Reinhard Lüke

„Das Auge von Vichy“, heute, 23 Uhr, West 3

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