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Kurfürstliche Stadt der Stahlkocher

Brandenburg will wieder „Chur- und Hauptstadt“ werden/ Der Titel wurde nie aberkannt  ■ Von Dorothee Stacke

Die Havelstadt Brandenburg will wieder Chur- und Hauptstadt werden. Der vom Kurfürsten Joachim II. (1505 bis 1571) verliehene Titel sei nie aberkannt worden. Durch einfache Willenserklärung könne Restitution erfolgen, sagt der Brandenburger Verwaltungsdezernent Andreas Wehnert. Entsprechende Verhandlungen liefen bereits mit dem Innenministerium des Landes in Potsdam. Hintergrund der Aktion: Stadtväter und Bürger haben Sorge, wieder einmal den Anschluß an wirtschaftliche und politische Entwicklungen zu verpassen.

Schon im späten Mittelalter mußten die Brandenburger Bürger nach Berlin reisen, um auf Befehl des Preußenkönigs das Stadtschloß aufzubauen. Eine Parallele zu DDR- Zeiten: Handwerker und Maurer wurden abgeordnet, um beim Aufbau der Hauptstadt Berlin und der Bezirksstadt Potsdam zu helfen. Leer dabei ging freilich die eigene Altstadt aus, obwohl Berlin sein Stadtrecht im Jahre 1237 eben von Brandenburg erhielt. Die Originalurkunde ist noch heute im Dommuseum zu sehen. Zehntausend Wohnungen in der historischen Innenstadt sind nicht mehr bewohnbar. Fast dreitausend Häuser — die Hälfte des Bestandes — sind vom Einsturz bedroht.

„Bis bald, altes Haus“ steht jetzt auf einigen Plakaten in der Innenstadt. Siebenhundert Bauten wurden bereits im letzten Jahr notdürftig gesichert. In zehn bis fünfzehn Jahren, hofft Wehnert, ist die Innenstadt saniert. Mit 25 Millionen Mark jährlich hilft dabei der Bund. Brandenburg ist neben Stralsund, Meißen, Weimar und Halberstadt eine der Pilotstädte für die exemplarische Innenstadt-Restaurierung in der Ex- DDR.

Vorerst jedoch kämpft die Stadt des Stahls um ein besseres Image. Schon immer, so könnte der Eindruck entstehen, haben die Herrscher in Berlin und Potsdam alles Unangenehme dorthin abgeschoben. Nachdem Berlin Ende des 14. Jahrhunderts Residenz geworden war, begann der Niedergang der einst reichen Handels- und Handwerkerstadt an der Havel. Die einstige Hauptstadt verlor im Dreißigjährigen Krieg durch Hunger und Pest ein Großteil der Bevölkerung. Der Rest verarmte, bis Brandenburg 1816 sogar die Stellung als kreisfreie Stadt verlor und in den Kreis Westhavelland eingegliedert wurde.

Mit Beginn dieses Jahrhunderts durfte Brandenburg den Schrott von Berlin verarbeiten. Stolz war man schon in den dreißiger Jahren auf das Brandenburger „Sing-Sing“, das größte und modernste Zuchthaus Europas. Auf dem mehrere Hektar großen Gelände begann nach der Wende die Gefangenenrevolte, jetzt sitzen noch 500 von ehemals 2.600 Häftlingen ein.

In den zwanziger Jahren hatte Brandenburg eine große Nervenheilanstalt bekommen, wodurch sie ein Jahrzehnt später traurige Berühmtheit erhielt: Zur Nazizeit wurden mitten in der Stadt im Rahmen des Euthanasie-Programms zehntausend Menschen vergast.

Gut hunderttausend Menschen wohnen in Brandenburg: Ein Drittel der 167 Quadratkilometer großen Stadt sind von Wald bedeckt, weitere 19 Prozent von Wasser. Drei historische Stadtkerne — die sogenannte Neustadt, Zentrum des Handels seit 1196, die Altstadt von 1170 und die Dominsel — sind zu besichtigen. Sie wurden erst 1715 auf allerhöchsten Befehl und widerstrebend vereint. Stolz sind die Brandenburger auf den achtzig Meter hohen Marienberg, ihre Fischer, die noch nach alter Tradition die Netze auslegen, und ihr traditionsreiches Ausflugsgebiet der zwanziger Jahre am Malge-Fluß. Frank Pape, neuer Chef des zuletzt von der sozialistischen Handelsorganisation (HO) heruntergewirtschafteten Betriebs, kann sich vor Gästen kaum retten. Mehrere tausend kommen an den Wochenenden in das frisch renovierte romantische Gartenlokal.

Der Brandenburger, der zu was gekommen ist, erholt sich auf eigener Scholle. Die heimlichen und heimischen Paradiese an den Ufern der zahlreichen Gewässer lernt man aber am besten bei einer Bootsfahrt kennen. dpa

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