Kuratorinnen über 11. Berlin Biennale: „Zu eröffnen war wichtig“
Corona hätte fast zur Absage der 11. Berliner Biennale geführt. Die Kuratorinnen Renata Cervetto und Lisette Lagnado berichten von der schwierigen Organisation.
taz: Im September 2019 ließen Sie gemeinsam mit María Berríos und Agustín Pérez Rubio Ihr Programm der 11. Berlin Biennale anlaufen. Auf dem Ex-Rotaprint-Gelände im Berliner Stadtteil Wedding fanden seither Ausstellungen, Vorträge, Performances und Workshops statt. Doch mit dem Einbruch der Pandemie im März kamen diese Aktivitäten erst mal zum Erliegen. Wie haben die Erfahrungen der letzten Monate Ihr Vorhaben verändert?
Lisette Lagnado: Wir waren kurz davor, die Künstlerliste zu veröffentlichen, als die Pandemie zu uns kam. Als das Virus dann auch die Länder Lateinamerikas, Asiens und andere verwundbare Gesellschaften ohne ein Gesundheitssystem wie hier erreichte, da bekamen wir Angst, einige der künstlerischen Projekte zu „verlieren“. Wir beschlossen, mit allen Künstlerinnen und Projekten, wenn auch teilweise abgewandelt oder reduziert weiterzuarbeiten. Und wir entschieden uns gegen eine Online-Biennale, da wir beobachteten, wie viele kulturellen Institutionen, Museen damit begannen, das Publikum auf ihren digitalen Plattformen mit diesem Format zu bombardieren. Doch wie ermöglicht man die physische Anwesenheit von Körpern in einem Moment, in dem genau diese zu einer Gefahr werden?
Renata Cervetto: Als der Raum in ExRotaprint im Wedding am 12. März geschlossen wurde, mussten auch wir erst mal innehalten. Wie konnten wir weiter zusammen sein, ohne andere dabei zu gefährden? Dabei geht es nicht nur um die Berlin Biennale. Schließlich verstehen wir erst, wer wir sind, durch die Beziehung zu anderen. Das ist entscheidend auch für unsere Arbeit und all das, was wir bereits in ExRotaprint vorgestellt hatten. Als wir langsam wieder öffneten, taten wir dies mit den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. So veranstalteten wir mit aller Vorsicht einen dreitägigen Workshop für Kinder. Ich glaube, darum geht es gerade: alternative Wege zu finden, um uns zu treffen und auszutauschen. Dass wir diese Biennale jetzt eröffnen können, bedeutet eine Menge, ist keine Kleinigkeit.
Sie haben mehr als 70 KünstlerInnen aus allen Teilen der Welt eingeladen. Auffallend viele von Ihnen kommen aus Lateinamerika. Wie sind Sie denn bei der Auswahl eigentlich vorgegangen?
Lagnado: Wir wollten unsere Recherche bis zur Ankunft in Berlin abgeschlossen haben, weil es kostspielig geworden wäre, nochmals zurückzukehren. Also hatten wir in unseren jeweiligen Kontexten damit begonnen. Agustín in Argentinien und Spanien. Renata in Argentinien und Guatemala. Ich in Brasilien. María in Chile und Dänemark. Dies hier ist nicht die Biennale von Venedig, an der eine bestimmte Anzahl von Ländern teilnimmt.
Lisette Lagnado, im Foto zu sehen links, geboren 1961 in Kinshasa, D. R. Kongo. Kuratierte u. a. die 27. Bienal de São Paulo „Como viver junto“ (2006) sowie zusammen mit María Berríos „Drifts and Derivations: Experiences, Journeys and Morphologies“ im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (2010).
Renata Cervetto, im Foto zu sehen rechts, geboren 1985 in Buenos Aires, Argentinien. Koordinierte von 2015 bis 2018 die Bildungsabteilung des Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires.
Uns interessiert in narrativer Umkehrung von der Bedeutung unserer Kontinente zu sprechen, in Beziehung zu einer westlichen Hegemonie, die existiert. Es war klar, dass es eine Mehrheit lateinamerikanischer KünstlerInnen geben würde. Agustín hatte zudem eine lange, intensive und erfolgreiche Reise auf die Philippinen unternommen. Auf der Berlin Biennale stellen nun vier philippinische Künstler aus.
taz: Es gibt sehr viele unbekannte Namen auf der Künstlerliste. Dass ein großer Teil von ihnen, beispielsweise aus Südamerika zur Eröffnung nicht anreisen konnte, was bedeutet das für Sie?
Lagnado: Die Verantwortung ist immens. Bis heute morgen war Agustín im Gropius Bau noch mit den letzten Details der Installation von Mapa Teatro aus Kolumbien beschäftigt. Die Künstler haben uns diese Aufgabe für die technische Umsetzung übertragen.
Das ist der praktische Teil. Aber besteht nicht auch das Risiko, dass durch die Abwesenheit der KünstlerInnen, besonders jener, die im internationalen Kunstkontext noch nicht etabliert sind, ihre Werke weniger eigenständig, eher im Zusammenhang mit der inhaltlichen Ausrichtung Ihres kuratorischen Projekts wahrgenommen werden?
11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst: „Der Riss beginnt im Inneren“. Ausstellungsorte: KW – Institute for Contemporary Art, daadgalerie, Gropius Bau und ExRotaprint, Berlin. Bis 1. November 2020, dienstags geschlossen. Die beiden anderen KuratorInnen der 11. Berlin Biennale sind, neben den beiden interviewten: María Berríos (geb. 1978 in Santiago de Chile) und Agustin Pérez Rubio (geb. 1972 in Valencia, Spanien). www.11.berlinbiennale.de
Lagnado: Ich denke gerade an die Arbeit von Paula Baeza Pailamilla, die im KW zu sehen ist. Ihre Landkarte des Territoriums der Mapuche war das Ergebnis eines kollektiven Prozesses, der von einer Videoaufzeichnung begleitet wurde. Der Film ist kein Kunstwerk, sondern eine Dokumentation. Es war wichtig, deutlich zu machen, dass es sich bei der textilen Landkarte nicht um eine autonome Skulptur handelt, sondern um etwas, dass die Energie der strickenden Frauen, die daran beteiligt waren, enthält. Die Installation ist wunderschön geworden. Aber wir mussten viele Fotos machen, einige Videos schicken und oft miteinander sprechen.
Cervetto: Auch Antonio Pichillá, dessen textile Skulpturen im Gropius Bau gezeigt werden, hat uns aus Guatemala Videos gesendet, damit wir die Arbeiten entwirren und hier montieren konnten. Mit dem Ergebnis war er dann sehr zufrieden.
Andere TeilnehmerInnen wie die chilenische Dichterin und Künstlerin Cecilia Vicuña wurden in der Vergangenheit vielfach ausgezeichnet und sind international bekannt.
Lagnado: Darüber haben wir lange diskutiert. Wir wollten eigentlich keine „Big Names“. Doch bei Cecilia Vicuña wie auch bei Pélagie Gbaguidi, die beide auf der letzten Documenta vertreten waren, überwog einfach die Bedeutung ihrer Kunst für unser kuratorisches Projekt.
Cervetto: Besonders im Fall von Cecilia Vicuña, die aus Chile ins Exil ging und heute in New York lebt, ist es sicher so, dass die Documenta ihr Werk und besonders ihre Dichtung einem größeren Publikum zugänglich gemacht hat. Es bedeutet aber nicht, dass eine Persönlichkeit wie sie danach automatisch in Lateinamerika bekannt wäre.
Eine Schlüsselfigur für die Konzeption der 11. Biennale ist der Künstler und Architekt Flavio de Carvalho, der von 1899 bis 1973 in Brasilien lebte.
Lagnado: Es erschien mir immer schon interessanter, eine Biennale aus einer künstlerischen Perspektive heraus zu entwickeln statt etwa aus einer soziologischen. Carvalho ist kein bekannter Künstler. Sein Wirken verbindet aber verschiedene Bereiche, die für das globale Format einer Biennale von Bedeutung sind. Flavio war ein visionärer Architekt und ein Kritiker des öffentlichen Raums. Durch seine Erfahrungen Anfang der 1930er Jahre regt er uns an, über die Kunst von Menschen mit mentalen Problemen und deren Platz in öffentlichen Museen nachzudenken.
Im Gropius Bau zeigen Sie deshalb die künstlerische Arbeiten von PsychatriepatientInnen aus den Sammlungen des Museu de Arte Osório Cesar und des Museu de Imagens do Inconsciente?
Lagnado: Ja, aber ich möchte nicht die Person Flavio de Carvalhos idealisieren. Für uns ist der Umgang mit ihm auch eine Form der Dekonstruktion – eines weißen Mannes, der – so grenzüberschreitend er auch war – für viele Probleme steht, mit denen Länder wie Brasilien bis heute zu tun haben. Seine Reise ins Amazonasgebiet, um für ein geplantes Museum Artefakte zu sammeln, wurde für uns zum Anlass, die Idee des Museums, den Extraktivismus oder Probleme der Restitution zu überdenken. Als moderner Mensch ist er auch eine problematische Person.
Cervetto: Und mit Widersprüchen. Sein Werk, das man aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann, ist sehr reich – einerseits visionär, andererseits auch machistisch.
Die Biennale präsentiert ebenfalls das chilenische Museo de la Solidaridad Salvador Allende und veröffentlicht eine Neuauflage des 1971 im Gefängnis entstandenes Kinderbuchs des uruguayischen Anarchisten Mauricio Gatti. Welche Rolle spielen diese Beiträge?
Lagnado: Traumatisiert kam ich nach dem verheerenden Brand im Nationalmuseum von Rio de Janeiro nach Berlin. Und es war für mich wie ein Schock, nach der Vernachlässigung des Kulturerbes in Brasilien, den Reichtum der öffentlichen Sammlungen hier zu sehen. Die historischen Beiträge und eingeladenen Museen sind Positionen der Berlin Biennale und ein Appell trotz Verletzlichkeit den eigenen Weg zu gehen.
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