Kunst und Lebensart an der Seine: Klein-Afrika in Groß-Paris

Paris ist die Stadt der afrikanischen Kunst. Es gibt eine Messe für zeitgenössische Kunst, Galerien. Und im Stadtviertel Goutte d’Or lebt Afrika.

Ganz viele Bananen auf einem Tisch, Leute stehen drumherum

The tears of Bananaman Maelle Galerie copie. Foto: AKAA 2017

Der Boulevard Barbès ist gesäumt von Kofferläden, Wechselstuben und Minishops. Hier im 18. Pariser Arrondissement, zwischen den Metrostationen Barbès-Rochechouart, La Chapelle und Château Rouge, ist das Zentrum der afrikanischen Lebensart in Frankreich. Oder vielmehr eines der Zentren. Doch im Goutte d’Or, dem goldenen Tropfen, wie das Viertel auch genannt wird, schlägt das Herz des afrikanischen Paris. Ein Paris, das viele Pariser nie betreten würden.

Befindet sich der Boulevard Barbès fest in algerischer Hand, so trennt die davon abzweigende Rue de la Goutte d’Or wiederum Nord- von Westafrika. Fliegende Händler bieten alle Sorten exotischer Gemüse und Früchte an – 5 Safou, die afrikanische Pflaume, für 2 Euro. Es gibt Kochbananen, Datteln, Maniok, Halal-Metzgereien und Lebensmittelgeschäfte, die alles bieten, was es in Mali, Senegal oder Algerien auch zu kaufen gibt. Es ist eine Art „retour au pays“ für die afrikanischstämmige Bevölkerung, eine Heimkehr, ein Heimatgefühl, hervorgerufen durch vertraute Gerüche und Geräusche.

„Der Goutte d’Or ist ein Anlaufpunkt für die Afrikaner“, sagt Kévi Donat. Der 32-Jährige, kurz geschorenes Haar und Bart, der sich stets ohne Nachnamen vorstellt, wartet an einem Novembertag am Metro-Ausgang Château Rouge. „Größtenteils wohnen die Leute gar nicht hier, sie kommen her, weil sie hier arbeiten oder einkaufen.“ Seit vier Jahren macht Kévi Führungen durch „Paris noir“, das schwarze Paris. Viele reagierten irritiert auf das Wort „schwarz“, sagt er, doch gerade bei US-amerikanischen Touristen, darunter viele Afroamerikaner, sind seine „Black Paris Walks“ sehr beliebt. In den USA seien die Black Studies ganz anders verankert, meint Kévi, während in Frankreich die „négritude“ oder „identité noir“ noch kein Thema ist. „In Frankreich diskutieren Schwarze nicht dar­über, weil sie nicht Teil der akademischen Welt sind.“

Die Welt der schwarzen Franzosen

Ausstellungen Fotografien von Malick Sidibé in der Fondation Cartier pour l’art contemporain, bis 25. Februar; Echomusée – Cargo 21: im Viertel verankerte Galerie, 24 Rue de la Goutte d’Or; Dada Africa: Ausstellung im Musée d’Orsay zu den außer­europäischen Einflüssen auf die Dada-Bewegung, bis 19. Februar

Führungen Historisch unterfütterte Führungen bietet Paris Noir auf Englisch und Französisch, www.blackpariswalks.com/en/about/Paris Noir

Thematische Führungen zu Kunst, Mode und Kultur hat auch Little Africa im Programm littleafrica.fr/about

Kévi ist in Martinique aufgewachsen und hat in Rennes Politikwissenschaften studiert. „Ich bin Franzose“, sagt er von sich, „aber kein Europäer.“ Martinique zählt zu den französischen Überseegebieten in der Karibik, hat den Euro und den französischen Lehrplan. Die Welt der schwarzen Franzosen ist sehr verschieden – und komplex wie die Koloniolgeschichte Frankreichs.

Der Goutte d’Or war früh ein Arbeiter- und Immigrantenbezirk, wobei die ersten Welle der Migranten im 19. Jahrhundert noch aus der französischen Provinz kam, um in den Fabriken zu arbeiten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg zogen viele Afrikaner aus den Kolonien hierher.

An der Église Saint-Bernard de la Chapelle macht Kévi halt; sie wurde im Sommer 1996 von über 200 sogenannten Sans-Papiers, Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, über zwei Monate lang besetzt und schließlich von der Polizei brachial geräumt. Bis heute ein Symbol des unsanften Umgangs des französischen Staats mit seinen „Papierlosen“, von denen sich etwa eine halbe Million Menschen im Land befinden.

Claire Nini, Kuratorin

„Es gibt einfach mehr afrikanische Künstler, man kann sie heute nicht mehr ignorieren“

Auch Anzoumane Sissoko war bei der Besetzung der Kirche dabei. „Die Leute im Viertel waren damals sehr hilfsbereit“, erinnert er sich. „Das ist jetzt anders. Als neulich das Camp bei La Chapelle geräumt wurde, kam niemand zur Hilfe.“ Der gebürtige Malier, 53 Jahre alt, inzwischen Franzose, ist Sprecher der Coalition Internationale Sans-Papiers et Migrants (CISPM). Er kommt an diesem Samstag zu einem Treffen ins Café gleich gegenüber dem Marché aux Enfants Rouges, einer Markthalle im 11. Arrondissement, wo er als Hausmeister arbeitet. Heute aber ist er da, um Kunst zu sehen.

Aufbruchsgeist und Lebensfreude
ein Markt auf einer Straße in Paris

Das Viertel la Goutte d'Or in Paris: traditioneller Markt in der Rue Dejean. Foto: Joao Bolan

In der Fondation Cartier gibt es eine Ausstellung seines Landsmanns Malick Sidibé, des berühmten Fotografen, der in Bamako sein Studio hatte, wo er in den 60er und 70er Jahren den Aufbruchsgeist und die Lebensfreude der jungen Generation festgehalten hat.

Sissoko ist kein Routinier der Kunstwelt. Bedächtig schreitet er die Schwarzweißfotografien ab. Bei ihm auf dem Dorf habe es keine Fotografen gegeben, erzählt er, und auch keine Mopeds, nur Fahrräder. „Die Sitten waren strenger. Mädchen und Jungen kamen nur zu Arbeitseinsätzen zusammen.“ Lange bleibt er vor einer Fotografie aus dem Jahr 1976 stehen: „Kampf der Freunde mit Steinen“ heißt sie. Zwei Teenager, Junge, Mädchen, in Badekleidung, in einem ausgetrockneten Flussbett stehend. Beide halten in der erhobenen rechten Hand einen Stein und schauen sich herausfordernd an.

Physisches, gedankliches, erotisches Kräftemessen? Sissoko kann sich an ähnliche Situationen in seiner Jugend erinnern: mit dem Gettoblaster am Fluss, in der freien Natur. „Jungen und Mädchen konnten sich nur im Schutz der Dunkelheit treffen.“ Oder in den Diskotheken in der Stadt, wo Malick Sidibé die tanzenden jungen Menschen fotografiert hat.

„Mali-Twist“ ist nur eine von mehreren sehenswerten Ausstellungen zu Afrika, die in diesem Winter in Paris zu sehen sind. Afrika boomt – auch auf dem Kunstmarkt. Sotheby’s in Paris hatte dieses Jahr erstmals eine solche Auktion im Programm.

Afrikanische Kunstmesse

„Afrika ist ein kulturelles Phantasma“, sagt Stadtführer Kévi dazu. „Und Paris ist die Stadt der afrikanischen Kunst.“ Schon zum zweiten Mal fand im November die AKAA (Also Known as Africa), eine Kunstmesse für zeitgenössische Kunst aus Afrika, in Paris statt. Hier stellen Galerien aus, die afrikanische Künstler und solche der afrikanischen Diaspora vertreten. Denn für viele Künstler gilt: Haben sie in Paris oder London studiert, ist es schwer für sie, in ihre Heimatländer zurückzukehren: keine Wirkmöglichkeiten, keine Anerkennung, kein Markt.

Ist das neue Interesse für Kunst aus Afrika eine Modeerscheinung?

„Nein“ sagt Claire Nini. „Es gibt einfach mehr afrikanische Künstler, man kann sie nicht mehr ignorieren.“ Nini taucht überall dort in Paris auf, wo es um Kunst aus Afrika geht, so auch bei der AKAA. Die freie Journalistin und Kuratorin hat mehrere Jahre im Tschad gearbeitet. Beim gemeinsamen Rundgang lässt sich feststellen, dass es eine sehr politische Kunst aus Afrika gibt.

„Das hat zum Teil damit zu tun, dass sich die Künstler verstärkt mit der Kolonialgeschichte und den Beziehungen ihrer Länder zur westlichen Welt auseinandersetzen“, sagt Nini. Und das wiederum habe zur Folge, dass sich die Künstler oft mehr mit den Bildern, die wir von Afrika haben, auseinandersetzten als mit ihrem eigenen Bild von Afrika.

Polemisch, satirisch, spielerisch – von Jean-François Boclé stammt die Installation „The Tears of Bananaman“, die Kontur eines liegenden Mannes, aus 300 Kilo Bananen bestehend, die während der Ausstellungstage reifen und am Ende vom Publikum verspeist werden.

Auch Jacqueline Ngo Mpii ist bei der AKAA mit einem Stand vertreten. Ihre Kultur- und Event­agentur Little Africa arrangiert Führungen, Atelier- und Restaurantbesuche, sie hat in Eigenregie einen Stadtführer herausgegeben. Er richtet sich ebenso an Touristen wie auch an Menschen ihrer Generation, die zur afrikanischen Diaspora in aller Welt gehören.

Suche nach der eigenen Kultur

„Gerade die jungen Leute sind bereit, sich wieder ihrer Vergangenheit zu nähern“, sagt Mpii, „Sie wollen ihre eigene Kultur und sich nicht völlig assimilieren.“ Die 29-Jährige kam als Kind von Kamerun nach Frankreich, Afrika ist für sie „die große Unbekannte“ geblieben. Mpii steht für eine selbstbewusste junge Generation von Schwarzen in Frankreich – in der Kunstwelt, in der Mittelschicht angekommen, auf der Suche nach der eigenen Kultur und einer eigenen Sprache. Dazu gehört auch, dass sie das Wort „noir“ oder „négritude“ selbstbewusst aussprechen und positiv besetzen kann.

„Der Rassismus richtet sich gegen Schwarze überhaupt“, sagt Mpii, „es geht um die Hautfarbe und nicht um die Nationalität.“ Geschätzte fünf Millionen Schwarze leben in Frankreich bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 67 Millionen. Aber wer sind überhaupt die Schwarzen in Frankreich? Wer zählt sie und was haben sie gemeinsam?

Louis-Georges Tin ist Präsident des Conseil Représentatif des Associations Noires de France (CRAN) und drückt es so aus: „Wir haben die Geschichte der Kolonisierung und die Erfahrung der Diskriminierung gemeinsam.“ CRAN setzt sich für mehr Diversität in allen Bereichen ein, sorgt für Straßenumbenennungen, kämpft gegen Blackfacing und für eine statistische Erfassung der Minderheiten.

Im laizistisch verfassten Frankreich, wo auch die Konfession nicht abgefragt werden darf, sorgt das für Irritationen. Es geht um Sichtbarmachung, und das Wort „schwarz“ hat laut Tin die notwendige Aufwertung erfahren: „Nicht etwa weil wir Rassisten sind, sondern weil die Gesellschaft rassistisch ist.“ Dem republikanischen Gleichheitsideal zum Trotz. Tins Verband kämpft seit Jahren für ein Museum der Sklaverei und für eine Wiedergutmachung. Moralisch wie finanziell. Das Museum ist beschlossen, aber noch nicht existent.

Paris ist voller Spuren der französischen Kolonialgeschichte – Kévi Donat kennt sie gut. Er zeigt die Highlights seiner Tour durch den Goutte d’Or. Führt kurz in das Innere eines ehemaligen Jugendstil-Theaters auf dem Boulevard Barbès, ein kleines Juwel, das heute Billigschuhe der Kette Kata für 10 Euro das Paar anbietet. Weist traurig auf das leer stehende Kaufhaus Tati hin, das Billigkaufhaus der Nordafrikaner mit Kultstatus – pleite. Er führt zur neuen Brasserie Barbès, die als Vorbote der einsetzenden Gentrifizierung gelten kann – schick und ohne afrikanisches Publikum. Schwarze sind hier als Angestellte zu finden – in der Küche.

Und was ist mit der schwarzen Mittelschicht? „Die gibt es durchaus“, sagt er, „aber um den Preis, dass sie ihre Herkunft vergessen haben.“ Auch sie würden vermutlich freiwillig keinen Fuß in den Goutte d’Or setzen.

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