: Kunst und Angst
Partizipierend an der Tradition des Schweren Grübelns: Der Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der das väterliche Erbe für Bücher verkaufte, – in einer Wiener Ausstellung, der Biographie von Ernst Gombrich und anderswo ■ Von Michael Rutschky
Aby Warburg hatte ein Lebensthema: die Angst. In Worten und Bildern, in symbolischen Formen zu fassen, was sie bedeutet und so die Angst zu bannen, hielt er für die zentrale Aufgabe, mit der die Kultur befaßt sei. Sie kann nie ein für allemal erledigt sein. Denn die angsterregende Bewegung steht im Bildwerk zwar still; aber ihr Echo muß sich in dir noch fortsetzen, sonst wäre die symbolische Form tot und stumm – und weil die Angst auch Lust ist, die Lust der Selbstauflösung und -destruktion, können die symbolischen Formen leicht die dionysische Macht zurückerlangen, von der die Menschen durch Kulturarbeit sich emanzipieren wollten.
Routiniert hatte ich das Flugzeug bestiegen, das mich nach Wien zu der Aby-Warburg-Ausstellung tragen sollte, voller Vertrauen in das technische Gerät – aber als uns die Turbulenzen schüttelten, entstand in mir gleichursprünglich mit der Angst die Vorstellung von Kräften, die mit dem Flugzeug ihr Willkürspiel treiben, die Vorstellung also von Wetterdämonen, den Alten wohlvertraut.
Aby Warburg (1866-1929), Sproß einer hochberühmten und mächtigen hamburgischen Bankiersfamilie, hat, seiner Profession nach Kunsthistoriker, im zwanzigsten Jahrhundert eine ihrem Umfang nach kaum abzuschätzende Wirkungsgeschichte. Die Aby- Warburg-Ausstellung in der Wiener Kunstakademie1 zeigt zwei seiner Arbeiten, von dem Künstler- Ehepaar Anne und Patrick Poirier als Längs- und Querschiff, also in Kirchenform arrangiert: Eine „Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde“, die Warburg kurz vor seinem Tod für das Hamburger Planetarium im Stadtpark aufgebaut hatte; sowie, im Querschiff – und hier, habe ich mir sagen lassen, lag der Schwerpunkt von Poiriers Arbeit – viele kleine weiße Kojen, „Mnemosyne“, womit Warburg sein Lebenswerk zu krönen hoffte, ein „Bilderatlas“, der auf 63 Tafeln nichts weniger als den Kulturprozeß selbst versinnlichen sollte, wie er zwischen der archaischen Angst (-Lust) und der symbolischen Form oszilliert. Unter den cognoscenti umgibt diesen Bilderatlas dieselbe Aura, die, bis zu seiner Veröffentlichung, bei seiner Gemeinde Walter Benjamins „Passagen-Werk“ umgab.
Ich gestehe, daß ich, wiewohl von Warburgs Wirkungsgeschichte nicht unberührt, kein Mitglied seiner Gemeinde und deshalb verständnislos durch die weißen Mnemosyne-Kammern gewandert bin. Der Kultwert der Exponate ging mir nicht auf; schwarzes Leinen, auf dem schlechte Fotos oder Fotokopien von Kunstwerken der Antike und der Renaissance, aber auch von Zeitungsausschnitten befestigt sind. Warburg, der an der Tradition des Schweren Grübelns partizipiert (auch darin Benjamin vergleichbar), hat durch die ständige Umstellung der Fotos auf den Tafeln einen zwingenden Zusammenhang, womöglich Ablauf der Motive herzustellen gehofft – er bleibt unverkennbar aus. Daß man, wie ich ein Mitglied des Wiener daedalus-Teams2, das die Ausstellung zu verantworten hat, einem anderen Besucher fromm erklären hörte, zuweilen noch die Originalpappen gefunden hat, mit denen Warburg hantierte, sowie die Klammern der Firma Sonnecken, mit denen er eigenhändig die Pappen auf dem Schwarzleinen befestigte (nicht diesem hier natürlich; trotzdem sind die Tafeln plexiverglast) – außerhalb der Gemeinde neigt man dazu, die Sache läppisch zu finden.
„Wer sich“, schreibt Ernst Gombrich in siner Warburg-Biographie, die als Leitfaden durch das Labyrinth seiner Lehre angelegt ist3, „völlig unvorbereitet in dieses Kapitel gestürzt hat, wird wahrscheinlich genauso verwirrt sein wie der Verfasser dieses Buches, als er zum ersten Mal die Fotografien zu sehen bekam, die von den Bildtafeln angefertigt worden waren und die Seiten des sogenannten ,Atlas‘ bilden sollten.“
Wer den Ausführungen bis hierhin gefolgt ist, wird kein deutlicheres Bild davon gewonnen haben, wer Aby Warburg war und was er gelehrt hat. Das Nachleben der Antike in der Renaissance (im Florenz der Renaissance) und darüber hinaus. Eben ist vom „Leitfaden“ die Rede gewesen, den Gombrichs Biographie durch Warburgs Arbeiten führe; des ist ein solches antikes Motiv, Ariadne hilft Theseus, mit einem Faden aus dem Labyrinth, wo er den Minotaurus besiegt hat, zurückzukehren.
Dramatisch – ohne daß wir es richtig bemerken – gestaltet sich das Nachleben der Antike auf dem Feld, dem Warburg die Ausstellung im Hamburger Planetarium gewidmet hat (und die in Wien rekonstruiert worden ist), dem Feld von Sternenkunde und Sternenglaube, das er zuvor in minutiösen Analysen bis dato komplett rätselhafter Fresken in römischen und florentinischen Villen bearbeitet hatte: Die antiken Götter, von Jupiter bis Merkur und Pluto, bestimmen unseren Strenenhimmel in nächster Nähe, und wer dem Sternenglauben noch unterliegt, vermeint ihren Einfluß in Gestalt seines Horoskops zu spüren.
An seinen astrologischen Forschungen kann man die Grundfigur von Aby Warburgs Anthropologie gut erkennen. Die Überarbeitung des nächtlichen Himmels durch Projektionen – Sternnamen und -bilder – bannt die archaische Angst, wie sie vorsemiotische Bewegungen auslösen. Aber die Prjektionen machen sich selbständig. „In der Traumwelt der Magie“, faßt Gombrich zusammen, „neigt das Zeichen, das zur Orientierung verwendet wird, dazu, mit dem Ding, das es ja nur symbolisieren soll, zu verschmelzen.“
Das Text- und Bildmaterial, durch das Warburg sich bei diesen Forschungen hindurchgearbeitet, „die wüste Welt der alten Astrologie“, wie Fritz Saxl, sein Stellvertreter auf Erden, bei der Eröffnung der Ausstellung 1930 formuliert hat, gehörte bis dahin nicht in den Kanon dessen, was einen Kunsthistoriker angeht, der Botticelli und andere Juwelen der Renaissance in Augenschein nimmt. Warburg hat also nicht nur bis dato unverständliche Gemälde entschlüsselt, er machte seiner Wissenschaft eine ganze Klasse neuer Quellen nutzbar. Das kennzeichnet alle revolutionären Anthropologen. Vor Norbert Elias hat keiner Etikettenbücher und ähnliches Material systematisch zu deuten gewußt; seit Freud ist das Unbewußte ein Fremder, der kam und blieb.
Warburgs Wissenschaft war denn auch keine Kunstgeschichte mehr, sondern Kulturanthropologie. Und dieser Wissenschaft hat er ein eigenes Kultlokal gestiftet, die KBW, die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, von der die cognsoscenti schwärmen, sie sei tatsächlich das Wunderwerk, als welches der Bilderatlas „Mnemosyne“ zu funktionieren sich weigert. In der Ausstellungsarchitektur von Anne und Patrick Poirier nimmt ein verkleinertes Modell des Lesesaals der KBW die Stelle des Hochaltars ein. (Dahinter, in der Apsis sozusagen, finden wir eine Wand voll mit den von Warburg unermüdlich bekritzelten Zetteln – hier ähnelt er Ludwig Wittgenstein, einem anderen Kollegen aus der Fraktion der Schweren Grübler. Wenn ich mich nicht täusche, sind diese Zettel die einzigen Originale der Ausstellung. „Zwischen Flüchten/ und eigenen/ Ambivalente [phobisch]/ .../ steht das Abtasten -/ der Abtastraum/ der Kunstentstehung“ lesen wir andächtig.)
Der Legende zufolge soll Warburg als Knabe seinem jungen Bruder den Erbanspruch auf die väterliche Bank um den Preis verkauft haben, daß ihm jederzeit jedes gewünschte Buch erworben werde, und aus dieser Sammeltätigkeit ist im Lauf der Jahre die KBW entstanden, ein privates Forschungsinstitut mit eigenen Lehrveranstaltungen und Schriftenreihen. Zwar nehmen Warburg, seine Mitarbeiter und Schüler ordentlich Anteil an der universitär verfaßten Wissenschaft, aber das Zentrum blieb die KBW, deren kultisch-magischen Aspekte Gombrichs Charakteristik unterstreicht: „Er ist der ,Seismograph‘, der die Erschütterungen ferner Erdbeben registriert.“ Die KBW ist so etwas wie James Joyces „Finnegans Wake“, das kollektive Unbewußte, das soziale Gedächtnis (allerdings konnte Warburg weder mit C.G. Jung noch mit Freud etwas anfangen).
Sie war aber kein bloßes Stück Fantasy, sondern eine veritable Schatzkammer. Anfang der zwanziger Jahre erhielt sie einen Neubau – Fritz Saxl, der die Geschäfte führte, hätte gern Walter Gropius oder Le Corbusier damit beauftragt – nach 1933 organisierte Saxl die Emigration des ganzen Unternehmens nach London, wo die Bibliothek zunächst von verschiedenen Mäzenen über Wasser gehalten, dann von der Universität übernommen wude, deren Teil sie als „The Warburg Institute“ heute ist. Die Adepten flüstern von den Apparaten, in denen man noch heute Warburgs Hände am Werk sehen kann.4
Anfang der zwanziger Jahre führte Saxl die Geschäfte (und organisierte die Bibliothek in Richtung auf öffentliche Brauchbarkeit um), weil Aby Warburg wahnsinnig geworden war. Die Psychose, die schon lange gedroht hatte, brach mit Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg über ihn herein, und die Symptome tobten so fürchterlich, daß man ihn in die geschlossene Anstalt einweisen mußte. Die Welt der archaischen Leidenschaften und Ängste verschlang ihn und hielt ihn für fünf Jahre gefangen.
Zuletzt war er im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee interniert, das unter der Leitung eines gewissen Ludwig Binswanger stand, der mit Freud ebenso befreundet war wie mit C.G. Jung, und wir wollen doch als Rätsel markieren, daß auch hier kein Kontakt zustande kam, nicht einmal in Gestalt brieflicher Mitteilungen über einen interessanten Fall (keine Spur von Aby Warburg in dem vergangenes Jahr veröffentlichten Briefwechsel Binswanger – Freud5. Kontaktersparnis auch auf der nächsten Stufe: Gombrich, noch von Saxl als Mitarbeiter gewonnen, ist eng mit Ernst Kris befreundet gewesen, einem prominenten Freud-Schüler der zweiten Generation. Und weil wir schon mal dabei sind: Benjamin hat Ende der zwanziger Jahre mit der KBW Berührung gesucht, erfolglos.
Warburg erholte sich in Kreuzlingen und konnte seine Ärzte schließlich davon überzeugen, daß ihm wieder genug „Denkraum“ gegenüber der primären Angst- und Dämonenwelt zugewachsen war, indem er einen wissenschaftlichen Vortrag hielt: Über ein Ritual, dem er ein Vierteljahrhundert zuvor bei den nordamerikanischen Indianern zugeschaut hatte, ein Schlangenritual zum Zweck des Wetterzaubers6. Die Indianer machten für seine Begriffe den Kulturprozeß sichtbar, den auch die europäische Antike durchlaufen hatte – den am Ende er noch einmal absolviert hatte, so daß er das Sanatorium verlassen und nach Hamburg zurückkehren konnte, wo er seine Arbeiten wieder aufnahm, die endlich in dem „Mnemosyne“-Projekt kulminierten (Und hier trat dann Saxl Gertrud Bing zur Seite, die nach Warburgs Herztod mit Saxl gemeinsam Warburgs Repräsentanz übernahm, schließlich in London, derselben Stadt, in der Anna Freud als Repräsentantin ihres Vaters wirkte).
Warburg hat sich aus der Dämonenwelt nie wieder entlassen gefühlt. Er hoffte, eine Erfahrung von anthropologischer Reichweite gemacht zu haben. Er kannte, wie er glaubte, die dionysischen Mächte aus eigener Anschauung. Die Angst, mit der alle Kunst, alle symbolischen Formen zu kämpfen haben, die (angsterregende) Leidenschaft, die sie erfüllen muß, damit sie überhaupt Ausdruck zeigen: Warburgs anthropologische Spekulationen stehen mit seinem Wahnsinn in intimem Austausch.
Das hat, wenn ich richtig sehe, dazu geführt, daß in der Warburg- Schule dise Spekulationen selbst immer mehr aus der Mode gekommen sind. Die Kulturanthropologie bildet sich zur Kunstwissenschaft zurück; schon bei Saxl, wie Carlo Ginzburg, auch ein Warburg-Schüler, aber der Kulturtheorie treu, gezeigt hat, erst recht bei Erwin Panofsky, dem allerberühmtesten7. Ich habe nach der Lektüre nicht mehr verstanden, warum die Untersuchung, die Panofsky gemeinsam mit seiner Frau Dora 1956 dem Motiv „Die Büchse der Pandora“ gewidmet hat, als sie 1992 auf deutsch herauskam8, in unseren Kreisen solcher Ruhm bedeckt hat. Die Gelehrsamkeit ist furchteinflößend – bloß weißt du am Ende beim besten Willen nicht mehr, warum du all die aufgehäuften Einzelheiten wissen sollst. Kein Erzählschema. In der innigen Pedanterie der Panofskys kann man Warburgs Zentralmotiv der Angst zwar noch gut verspüren, es käme aber darauf an, den Kopf aus den Zettelkästen zu heben und ihr ins Antlitz zu schauen.
– Da war's schon wieder, das Nachleben der Antike, erst der Ariadnefaden, jetzt das Haupt der Medusa.
Wie gesagt, Aby Warburgs Wirkungsgeschichte läßt kaum etwas zu wünschen übrig. So wird es nicht schwerfallen, seine Theorie der Leidenschaft wieder aufzunehmen, die von den symbolischen Formen nicht nur gebunden, sondern auch freigesetzt werden könne. Man denke an die außerordentlichen Wirkungen, die sich im Augenblick durch das Vorzeigen eines Hakenkreuzes erzielen lassen. Angst, Affekte, Leidenschaften erfordern unsere kulturelle Aufmerksamkeit. Die Postmoderne mit ihren heiteren Zeichenspielen, der Verwechslungskomödie der Signifikanten, ist vorbei.
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