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KulturDie Angehörigen klagen an

Vor fünf Jahren ermordete der Rechtsextremist Tobias R. in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund und verletzte sieben weitere. Noch immer kämpfen die Hinterbliebenen um Aufklärung. Am Stuttgarter Theaterhaus rekonstruiert das Stück .„And now Hanau“ das Attentat. Im Publikum fließen Tränen.

„Die Bilder und Gesichter holen einen ein“, sagt Schauspieler Ufuk Oehlerking. Foto: Julian Rettig

Von Zülal Acar↓

Wenn Larissa Ivleva über das Ehepaar Kurtović spricht, blickt sie fast voller Ehrfurcht. „Ich stand neben den zwei und es ist so ein Gefühl, dass du ihnen unbedingt näherkommen möchtest. Weil sie so eine Würde und Kraft ausstrahlen“, sagt die Schauspielerin kurz bevor es auf die Bühne im Stuttgarter Theaterhaus geht. Dort geht es um die Geschichten von Familien wie dem Ehepaar Kurtović, die ihre Angehörigen am 19. Februar 2020 verloren haben. An diesem Tag ermordete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen: Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoglu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Paun, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Said Nesar Hashemi, Sedat Gürbüz und Ferhat Unvar. Anschließend tötete er seine 72-jährige Mutter und sich selbst.

„Mir tut es weh. Mir tut die Ungerechtigkeit gegenüber den Hinterbliebenen weh“, sagt Ivleva im Gespräch mit Kontext. Auch ihre Schauspielkolleg:innen sind jedes Mal ergriffen, wenn sie „And now Hanau“ spielen. „Wir wollen dem Ganzen gerecht werden. Man muss neutral bleiben, auch wenn es schwerfällt. Die Bilder und Gesichter holen einen aber ein“, sagt Ufuk Oehlerking.

Gleich geht es los. Es sind, wie oft bei den Vorführungen zu diesem Stück, viele junge Menschen, vor allem Frauen, viele mit migrantischem Hintergrund. Bühne und Zuschauerraum verschmelzen. In einem Halbkreis sitzen die fünf Darsteller:innen direkt neben ihrem Publikum, zwischendrin stehen leere Stühle mit den Namen der Opfer des Hanauer Attentats. Ein Name soll auf Wunsch der Angehörigen an diesem Abend nicht genannt werden.

„Es hört einfach nicht auf!“, ertönt es in den dunklen Saal. „Rostock-Lichtenhagen, 1992. Mölln, 1992. Solingen, 1993. Stuttgart Geißstraße, 1994. NSU-Mordserie 2000 – 2007. Halle, 2019…

19. Februar 2020: And now Hanau.“ Alles Orte, an denen migrantische Menschen aus rassistischen Motiven ermordet wurden. „Die Menschen haben immer noch Angst vor Namen, die ihnen fremd sind!“, skandieren die Künstler:innen. Dann gehen die Lichter an. Lediglich ein Bundesadler schmückt die Bühne. Das Publikum kann einander in die Augen sehen. Es wird unbequem.

„And now Hanau“ ist eine schonungslose Abrechnung mit dem deutschen Politik- und Behördenversagen – vor allem mit strukturellem Rassismus im Land. Und es ist kein typisches Theaterstück: Alles beruht auf stichfesten Fakten statt Fiktion. Für das dokumentarische Spiel hat Autor Tuğsal Moğul mit Angehörigen der neun Opfer sowie der Initiative 19. Februar gesprochen.

Das fünfköpfige Theater-Ensemble stellt an diesem Abend viele Fragen: Wie konnte es zu dem rassistischen Anschlag in Hanau kommen, obwohl der Täter vorher ein hasserfülltes Manifest im Internet veröffentlichte und den Behörden bekannt war? Warum übernimmt bis heute niemand die Verantwortung und wieso müssen die Angehörigen die Aufklärungsarbeit übernehmen?

Staatsanwaltschaft: Selbst schuld

Viele Zuschauende schnauben, schütteln den Kopf oder halten sich eine Hand vor den Mund. Die Fakten machen sprachlos. Etwa wenn es darum geht, warum der Notausgang in der Arena-Bar zum Tatzeitpunkt verschlossen war. Said Etris Hashemi, Überlebender und Bruder des getöteten Said Nesar Hashemi wird im Spiel zitiert: „Notausgang? War für uns keine Option gewesen, weil wir alle wussten, dass dieser Notausgang geschlossen ist. Wäre der Notausgang offen gewesen, hätten fünf überlebt.“ Neun Sekunden hätten ausgereicht, damit sie vor dem Schützen fliehen konnten. „Die vielen Razzien der Polizei“ in der Bar könnten einer der Gründe gewesen sein, wieso die Tür verschlossen war, heißt es auf der Bühne. Kurz nach dem Mordanschlag sprechen Medien wie „Bild“ von einer Milieu-Tat. Die Schuldigen werden als migrantisch vermutet – eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Vili Viorel Păun versucht in Hanau den Täter zu stoppen, ehe er getötet wird. Der Polizei-Notruf ist damals nicht zu erreichen, erzählt Moğul in seinem Text. Im Einstellungsbescheid gibt die Hanauer Staatsanwaltschaft später Păun die Schuld an seinem eigenen Tod.

Fassungslos machen auch Zitate der ermittelnden Beamten: „Das ist der Vater des Z********“. Nicht nur, dass die Eltern von Vili-Viorel Păun mit Antiziganismus konfrontiert werden – sie erhalten vom Bundeskriminalamt auch einen vertauschten Leichensack.

Anderthalb Stunden lang gibt das Ensemble die Tatnacht chronologisch wieder und verleiht in Dialogen den Angehörigen ihre Stimmen. Einige Familien der Opfer saßen oft bei den Vorführungen im Publikum. „Alles, was wir erzählen, ist ja wirklich passiert. Wie weit kann ich die Mama verkörpern, die ihren Sohn verloren hat? Und sie sitzt da…“, sagt Schauspielerin Katja Schmidt-Oehm im Interview. Es sei daher sehr befreiend gewesen mit Emiş Gürbüz, der Mutter von Sedat Gürbüz, zu sprechen, erzählt Schmidt-Oehm. „Sie sagen, sie wollen nicht, dass man sie vergisst und sie wollen, dass man ihre Stimmen erhört.“

Wegsehen ist unmöglich

Zu oft gehe es um die Täter, nicht um die Opfer und Hinterbliebenen, betont auch ihr Schauspielkollege Irfan Kars im Nachgespräch. An den Namen des Hanauer Rechtsextremen könne und wolle er sich nicht erinnern, sagt er. In dem dokumentarischen Stück werden Fotos der Opfer sowie Tatortaufnahmen auf Bildschirmen eingeblendet. Es wird einfühlsam aus dem Leben der Verstorbenen erzählt: Wer sie waren, was sie mochten und wovon sie träumten. Überlebende und Angehörige lässt Bühnenautor Moğul in Videointerviews zu Wort kommen. Wegsehen ist unmöglich. „Dass die Texte direkt neben einem stattfinden, das hat eine andere Dynamik. Wenn man direkt daneben sitzt, da kannst du dich nicht wegbeamen. Auf einer Tribüne mit 100 weiteren kann man sich dagegen wegducken“, erklärt Werner Schretzmeier, Theaterhausleiter und Regisseur des Stücks, die Bühnengestaltung.

Wegducken möchten sich offenbar viele nach dem Attentat. Da sind zum einen Vertreter:innen der Politik. Der damalige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier wird etwa genannt. Er „sagte den Opferangehörigen nach dem rassistischen Anschlag: ‚In meinen 42 Jahren als Anwalt, da habe ich noch viel Schlimmeres gesehen (…).‘ Das ist jener Volker Bouffier, der die NSU-Akten am liebsten für 120 Jahre unter Verschluss haben wollte!“

Freilich sei Bouffier nicht der einzige Politiker, der den Hinterbliebenen pietätlos gegenübergetreten sei, wird betont. „Ihr, die Polizei. Ihr, die Waffenbehörde. Ihr, die Staatsanwaltschaft. Ihr, die Politiker. Wieso hat keiner den Mörder gestoppt? Wieso übernimmt keiner Verantwortung?“, lautet einer der Appelle. „Wenn ihr Verantwortung übernommen hättet, schon in den 80er und 90er Jahren, wäre mein Kind noch am Leben. Das ist euer Werk!“, beklagt Sedat Gürbüz‘ Mutter, gesprochen von Katja Schmidt-Oehm. Es ist ein Zitat aus dem Hessischen Landtag, in dem auch Mitglieder der FDP, CDU sitzen und Sedat Gürbüz‘ Mutter hören. Aber: „Zwei von ihnen lesen dabei die Zeitung oder öffnen ihre private Post…wie respektlos kann man eigentlich sein? Sie haben uns eingeladen!“, heißt es dann im schnellen Dialog zwischen Erzähler:innen und Angehörigen. Ein CDU-Abgeordneter, sagt ein Erzähler, habe Angehörige, „die ihm nicht passten“ mit nichtigen Fragen vom eigentlichen Thema abgelenkt.Auch von der Polizei fühlen sich die Angehörigen im Stich gelassen. 13 der 19 SEK-Beamten, die zur Tatnacht in Hanau im Einsatz waren, äußerten sich rassistisch in internen Chats. Der damalige Polizeipräsident Roland Ullmann wurde sogar befördert. Es folgen keine Entschuldigungen.

Eine Schweigeminute für die Opfer

Diese Ignoranz hat Tradition in Halle, Mölln, Solingen, Kassel et cetera. Es ist also kein Zufall, dass der Titel „And now Hanau“ (zu Deutsch: „Und jetzt Hanau“) lautet.

Und die Botschaft des Stücks ist klar: Rassismus tötet. Der Täter des Hanauer Mordanschlags wählte seine Opfer nach ihrem vermeintlich fremden Aussehen. Filip Goman, der Vater der getöteten Mercedes Kierpacz, wird so zitiert: „Es ist nicht mehr 1933, wo Hitler uns vergast hat. Uns die Roma, die Juden... Die Zeit ist wiedergekommen. (…) Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.“

Stephan Moos beschäftigt sich in seiner schauspielerischen Arbeit seit fast dreißig Jahren mit dem Thema Migration. „Demokratiefeindlichkeit, zunehmende Nationalismen. Es wird immer schwerer, deswegen werden wir immer lauter“, sagt er im Interview.

„And now Hanau“ hat ein hohes Tempo, die Informationen sind dicht gepackt, eine Mischung aus Gerichtsprotokollen, Aussagen, O-Tönen. Zwischendrin gibt es eine Schweigeminute für die Opfer. Als die Vorführung zu Ende ist herrscht Betroffenheit. Regisseur Schretzmeier lädt zum Podiumsgespräch mit dem Ensemble ein, „weil der Bedarf immer groß ist“. Alle Zuschauenden nehmen teil. Einige berichten von Alltagsrassismus, es fließen Tränen.

„Rassismus ist ein sehr unangenehmes Thema. Niemand möchte sich unbeliebt machen, indem er ihn anspricht. Es erfordert Mut!“, sagt Irfan Kars den Teilnehmenden. Der Rechtsruck macht vielen Anwesenden Angst, so viel ist klar. Regisseur Schretzmeier bezeichnet alle im Saal als Verbündete: im Kampf für die Demokratie und gegen das Vergessen.

Die nächste Vorstellung von „And now Hanau“ ist am Mittwoch, 19. Februar 2025, um 19:30 Uhr im Theaterhaus Schauspiel. Tickets kosten zehn Euro. Mehr Infos und weitere Termine unter www.theaterhaus.com.

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