Kultur: Revolution spielen
Einblicke in Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte verspricht eine „Erlebnisführung“ durch die Ausstellung „Protest! Von der Wut zur Bewegung“des Landesmuseums Württemberg. Ein Selbstversuch.
Von Dietrich Heißenbüttel
Draußen ist Weihnachtsmarkt. Im Foyer des Landesmuseums im Alten Schloss, Stuttgart, geht es zu wie im Taubenschlag. Aber die Erlebnisführerin Bettina Marx, im Hauptberuf Kostümbildnerin, weiß, wie sie ihre Schäfchen findet. Es sei ja keine gewöhnliche Ausstellung mit Objekten, warnt sie schon mal vor. Eher interaktiv. Etwas mehr als zehn Personen folgen ihr zum Aufzug oder gehen über die Reitertreppe hinauf in die dritte Etage.
Die Ausstellung „Protest! Von der Wut zur Bewegung“ gehört zur Großen Landesausstellung „500 Jahre Bauernkrieg“, neben anderen Teilen wie der Kinderausstellung „Zoff!“ und der eigentlichen Bauernkriegs-Ausstellung „Uffrur! ... on the Road“, die erst am 30. April in Bad Schussenried eröffnet. Das Landesmuseum nimmt den Bauernkrieg nur zum Anlass, um über Protestbewegungen allgemein zu reflektieren. Und zwar medial, interaktiv, zum Mitmachen.
Eine Flut von Bildern weht einem gleich zu Beginn des Rundgangs entgegen: Demos zu verschiedenen Themen weltweit. „In der Erlebnisausstellung“, heißt es in der Ankündigung, „tauchen Sie ein in vergangene und aktuelle Protestbewegungen.“ Um wieder auf den Teppich zu kommen, folgen drei Beispiele aus Stuttgart. Man kann – interaktiv! – an Rädern drehen und so zu Stuttgart 21, zum Verkehr, vor allem Radverkehr, und zu den Corona-Demos das Pro und Contra zum Vorschien bringen: Zu Stuttgart 21 weiß die Erlebnisführerin, dass bei der Volksabstimmung mit „Ja“ stimmen musste, wer dagegen war, und dass einer vom Wasserwerfer am Auge getroffen wurde: „Inzwischen ist er ganz blind.“ Dass er Dietrich Wagner hieß und nicht mehr lebt, scheint sie nicht zu wissen.
Videobotschaften und sprechende Schachfiguren
Gegenüber kann man auf Knöpfe drücken, um zu zeigen, wofür man sich engagieren würde. Frieden führt die Hitliste an, gefolgt von Klima, Rechten für queere Menschen und einer humaneren Asyl-Politik. Anschließend kommen Aktivist:innen in Videobotschaften zu Wort: Nisha Toussaint-Teachout ais Stuttgart und Vanessa Nakate aus Uganda fürs Klima, Raúl Krauthausen für Behinderte, die Aktivistin, die sich Pepper nennt, aus Hongkong und der Stuttgarter David Gerstmeier mit seiner Imkerei Summtgart für Bienen und biologische Landwirtschaft. Immerhin interessant: Wer kennt schon seine Aktivist:innen vor Ort?
Weiter geht es zu einem Schachspiel. Ein besonderes, interaktives Schachspiel, denn sobald man mit einem Bauern eröffnet, erzählt der vom Bauernkrieg: „Ohne uns hätten die Herren weder Brot zu essen, noch Wein zu trinken.“ Und der Springer, hoch zu Ross, antwortet, der Adel beschütze die Bauern. Zum Bauernkrieg gehört auch eines der wenigen originalen Exponate aus der Sammlung des Landesmuseums: eine prunkvolle Armbrust, mit der wahrscheinlich nicht gekämpft wurde. Aber mit einer Armbrust konnte man einen Menschen töten, weiß die Erlebnisführerin Marx.
Leider gibt es nun aber von der Stuttgarter Baderin Magdalena Scherer, die durch ein Gerichtsprotokoll als Aktivistin des Bauernkriegs dokumentiert ist, keine Videoaufnahme. Was tun? Die Künstliche Intelligenz kann aushelfen. Eigentlich ein Fake. Den aber das Landesmuseum transparent macht: Im digitalen Projekt zum Bauernkrieg „LAUTseit1525“ wird es näher erläutert. „Tauchen Sie ein in die Geschichte und Ereignisse des Bauernkriegs“, heißt es da wieder. Es scheint sich um die Lieblings-Metapher des Landesmuseums zu handeln.
Nicht legal, aber legitim
Nun aber wird es ernst. Die Besucher:innen müssen sich für ein Thema entscheiden. Und für einen von drei Durchgängen, je nachdem, ob sie für das Thema brennen, ob es ihnen wichtig ist oder ob sie nur auf einer Demo mitlaufen wollen. Reicht es bis zum parteipolitischen Engagement? Würden sie eine Petition starten? „Sie haben sich entschieden, dass es bestimmte Dinge gibt, für die Sie auf die Straße gehen würden“, steht da. Aber: „Achtung!“ Nicht alle Protestformen sind erlaubt, also legal.
Freilich gibt es einen Unterschied zwischen legal und legitim. Sich vor einen Panzer zu setzen, wurde zwar auch schon als Nötigung, also Gewalt ausgelegt, kann aber auch als legitim angesehen werden, um schlimmere Gewalt zu verhindern. Die Teilnehmer:innen dürfen verschiedene Protestformen auf einer Tafel in Richtung „legitim“ oder „illegitim“ verschieben. „Mutti, was machsch ‚enn du da?“ ruft eine, die mit ihrer Mutter und ihrer Tochter gekommen ist. Gerade eben hatte sie eine Reihe von Aktionsformen für legitim erklärt, da setzt ihre Mutter die Straßenblockade auf „illegitim“ zurück.
Museumsbesuch statt Revolte
Aber was ist das für ein Lärm? Im Zentrum der Ausstellung steht ein Auto, auf das man mit garantiert ungefährlichen Schaumgummiprügeln eindreschen kann. „WUT“ steht dahinter in Großbuchstaben an der Wand: Die Mutter allen Protests. Gegenüber ist ein „besetztes Haus“ aufgebaut, in dem man auf Kopfhörern den Rauch-Haus-Song der Band „Ton Steine Scherben“ aus dem Jahr 1972 anhören kann: „Und die Leute im besetzten Haus riefen: Ihr kriegt uns hier nicht raus ...“. Sie habe 1981 in Berlin auch einmal an einer Hausbesetzung teilgenommen, erzählt Bettina Marx. Eigentlich nicht legal. Aber am Ende doch, da der Hausbesitzer den Besetzer:innen einen Erbpachtvertrag angeboten hat.
Die Ausstellung regt an, sich Gedanken zu machen: Was unterscheidet Protest von Aktivismus, von einer Revolte oder einer Revolution? „Wann würdest du eine Revolution starten?“, fragt eine große Stellwand, an die man Zettel anpinnen kann. Ideen gibt es genug: „Ausbeutung“, „Armut“, „Klimawandel und Frieden“, „zum Erhalt der Demokratie“, „wenn sich meine Rechte als Frau verschlechtern“. Bevor die Deutschen eine Revolution anfangen, kaufen sie erst einmal eine Bahnsteigkarte, soll Lenin gesagt haben. Da es Bahnsteigkarten heute nicht mehr gibt, könnten sie vielleicht auf eine Eintrittskarte ins Landesmuseum ausweichen.
Dass Protest auch mit Risiken verbunden ist, dass man beispielsweise von einem Gummiknüppel, vom Strahl eines Wasserwerfers getroffen oder von Polizist:innen eingekesselt werden kann, das lässt sich in der Ausstellung dann doch nicht nachfühlen. Auch wenn weiße Sandsäcke im engen Quadratraster in Verbindung mit wandhohen Videos vom Schlachtengetümmel ein Gefühl der Enge zu erzeugen versuchen.
Am Ende sieht die Erlebnisführerin auf die Uhr und stellt befriedigt fest: Sie hat den Rundgang in einer Stunde geschafft. Die Führung selbst war nicht sehr interaktiv, sie hat die Teilnehmer:innen regelrecht zugetextet. Die sinken denn auch erschöpft in die Sitzgelegenheiten des letzten Raums: eine orangefarbene Bank an der Wand und ein großer Tisch mit Stühlen, wo man Postkarten gestalten kann, die in einem Ständer zum Mitnehmen angeboten werden. Oder man spricht auf einen alten Kassettenrekorder seine revolutionären Botschaften auf. Nein, das ist nicht die Kinderausstellung „Zoff!“, die befindet sich zwei Ecken weiter am Ende eines langen Gangs. Dies hier ist die Bastelecke für Kinder und Erwachsene.
Auch bei Älteren beliebt
Von politischer Bildungsarbeit spricht die Kuratorin Maaike van Rijn auf Kontext-Nachfrage, von der Aktualität des Themas und von einem Empowerment zur gesellschaftlichen Mitgestaltung. Bedeutet dies, dass sich die Ausstellung vor allem an junge Menschen richtet? Eigentlich an alle Generationen, sagt sie, sie seien aber überrascht gewesen, dass das Thema auch bei Älteren gut ankommt. Alt-68er zum Beispiel, die selber in den 1980er-Jahren Menschenketten gegen den Nato- Doppelbeschluss zur Nachrüstung von Atomraketen organisiert haben.
Nostalgische Erinnerungen, Aggressionen abreagieren, mit Schachfiguren den Bauernkrieg spielen oder an einem Flipper sinnbildlich erkunden, wie viel Drall eine Botschaft benötigt, um in den sozialen Medien zum Zündfunken einer Protestbewegung zu werden: Die Ausstellung bietet für vieles Raum. Nur eines kann sie mit all ihren „immersiven Medien“ nicht: Begreiflich machen, warum Menschen für Gerechtigkeit, gegen Klimawandel und Krieg auf die Straße gehen, oder gar, wie es sich anfühlt, dabei zu sein.
Denn es ist nicht einfach nur Wut, was Menschen auf die Straße treibt, es gibt immer auch einen Grund, wenn nicht ein existenzielles Problem – das eigene Überleben oder die Zukunft des Planeten. Wer für ein solches Thema „brennt“ oder auch nur mitlaufen will, muss nicht in die Ausstellung im Landesmuseum gehen, sondern einfach zur nächsten Demonstration. Dort kann er oder sie ganz direkt erfahren, wie sich der Protest anfühlt.
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