Kritischer Journalist in Italien: Als "Leichenfledderer" geschmäht
Der TV-Journalist Michele Santoro wagte es, öffentlich kritische Fragen zum Erdbeben in LAquila zu stellen. Jetzt steht er als Nestbeschmutzer am Pranger der Berlusconi-Medien.
"Die Toten bremsen ihn nicht, keine Rührung, die ihn aufhalten könnte." Aldo Grasso, TV-Kritiker des Corriere della Sera, schäumt vor Empörung - vor Empörung über die Erdbebenberichterstattung des populären TV-Journalisten Michele Santoro. Nach der Katastrophe in den Abruzzen, die knapp 300 Tote forderte, hat Italien jetzt seinen Skandal. Der dreht sich allerdings nicht um die spannende Frage, weshalb ein moderates Beben so schwere Opfer fordern konnte oder weshalb selbst ein modernes Krankenhaus und ein ebenso modernes Studentenwohnheim einstürzen konnten.
Skandalös ist für Aldo Grasso alleine Santoro. Der hatte in seiner Sendung "AnnoZero" am letzten Donnerstagabend auf dem Staatssender RAI 2 einige unbequeme Fragen gestellt. Zum Beispiel, warum der Zivilschutz keinen Notfallplan für die Provinz hatte, obwohl dort die Erde schon seit drei Monaten bebte. Oder warum die Warnungen eines Wissenschaftlers vor einem heftigen Beben im Vorfeld als Unfug abgetan wurden.
Solche Fragen gehören sich einfach nicht. Am Dienstag nach Ostern widmete die Tageszeitung Il Giornale gleich ihre sechs ersten Seiten dem "Skandal". Titel: "Santoro steht jetzt mit dem Rücken zur Wand". Als "Kannibale", als "Leichenfledderer", als einer, der "mit Tragödien spekuliert, um die Einschaltquote hochzutreiben", muss der Journalist sich beschimpfen lassen.
Santoro nämlich hatte eines vergessen: Ein Beben in Italien ist schließlich auch ein Beben im Berlusconi-Land. Santoro hätte bloß die TV-Nachrichten auf den drei von Berlusconis Regierungsmehrheit kontrollierten Kanälen der RAI und auf den Berlusconi-Sendern der Mediaset anschauen müssen, um zu begreifen, welcher Ton gefragt ist. Die Naturkatastrophe habe die Menschen schwer getroffen, untadelige Helfer seien im Einsatz, die Regierung, beginnend beim praktisch täglich in den Abruzzen präsenten Berlusconi, sei vor Ort und gibt ihr Bestes. Ganz ähnlich berichten auch die meisten Zeitungen: Italien hat sich medial zur schwer geprüften Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen.
"Minister an der Arbeit, in der ersten Reihe", berichtet zum Beispiel Il Giornale, "Alfano, Zaia, La Russa, Tremonti, Bossi und Calderoli sind unter den Menschen, um die Einsätze zu koordinieren". Wahr daran ist nur, dass jene sechs Minister medienwirksam ins Katastrophengebiet reisten - koordiniert haben sie allerdings nichts. Stattdessen gilt es als unanständig, wenn ein Reporter des Santoro-Teams den Kopf darüber schüttelt, dass auch vier Tage nach dem Beben in der Einsatzzentrale in LAquila kein Koordinator der verschiedenen Rettungskräfte benannt ist.
Das ist Nestbeschmutzung. "Mit Schlamm beworfen" habe Santoro die Feuerwehrleute und Zivilschützer, die aufopferungsvoll im Einsatz seien, tönen seine Kritiker. Das Gegenteil stimmt: Auch Santoro hielt sich nicht mit Lob für die tausenden Helfer zurück. Er sprach aber eben auch Punkte an, die am Bild des rundum perfekten Einsatzes kratzen: So blieben in diversen Bergdörfern die dort obdachlos gewordenen Menschen tagelang ohne Hilfe und mussten in ihren Autos übernachten, weil keine Zelte aufgestellt wurden.
Gar nicht skandalös findet Italiens Medienmeute dagegen, wenn Berlusconi entgegen allem Augenschein in LAquila schon ein erstes Urteil über die Bauunternehmer spricht, die jene Bruchbuden errichtet hatten, die dann wie Kartenhäuser einstürzten. "Keine auf schuldhaftes Verhalten hinweisenden Mängel" will der Ministerpräsident in den Trümmern bemerkt haben - und so etwas wird ganz selbstverständlich berichtet, ohne groß eine weitere Kommentierung zu erfahren. Fragen sind zurzeit nicht erlaubt in Italien. Ganz unskandalös auch geht seit Tagen ein bisweilen übler Betroffenheitsjournalismus auf Sendung. Da fragt zum Beispiel eine Reporterin ganz dreist die weinenden Angehörigen eines unter den Trümmern gestorbenen jungen Mannes: "Können Sie uns auch ein Signal des Vertrauens geben?" Allein dieses Signal ist schließlich erwünscht - und niemand erregte sich angesichts dieser makabren Nachfrage über mediale Leichenfledderei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“