Kriminologe über Polizeigewalt: "Beamte unterliegen Gruppendruck"
Bei Straftaten von Polizisten sollen externe Kommissionen ermitteln, fordert der Kriminologe Martin Herrnkind. Nur so könnten Gewaltopfer eine Chance auf ein gerechtes Verfahren bekommen.
taz: Herr Herrnkind, jährlich werden etwa 1.600 Strafanzeigen gegen Polizisten erhoben. Um wie viel höher schätzen Sie die Dunkelziffer?
Martin Herrnkind: Das ist schwer zu sagen. Aber ich gehe von mehr als doppelt so vielen Opfern von Polizeigewalt aus, die ihren Fall nicht zur Anzeige bringen.
Warum scheuen so viele Opfer den Rechtsweg?
Die Aussicht auf Erfolg ist zu gering. In mindestens 95 Prozent der Fälle, in denen Betroffene Anzeige erstatten, wird das Verfahren eingestellt.
95 Prozent! Was läuft da schief?
Sehr häufig steht Aussage gegen Aussage. In solchen Fällen stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren meist sofort ein. Auch sind Staatsanwälte auf die dauerhafte Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen. Da stellt man sich lieber gut miteinander. Und selbst wer Fälle von Polizeigewalt couragiert angeht, scheitert oft an den schlampigen Ermittlungen innerhalb der Polizei.
MARTIN HERRNKIND, 49, ist Kriminologe und Polizist. 1991 trat er Amnesty International bei, wo er in der Kommission Polizeirecherche mitwirkte.
Warum wollen die Beamten nicht gegen ihre Kollegen ermitteln?
Die Beamten unterliegen einem Gruppendruck. Außerdem rücken Gemeinschaften bei äußerer Gefahr enger zusammen. So schweigen Polizisten, wenn es dem Kollegen an den Kragen geht. Oder sie stimmen Aussagen untereinander ab.
Das erinnert doch stark an Korpsgeist?
Korpsgeist nicht unbedingt. Das Wort erinnert doch zu stark an militärisches Ehrgefühl. Es ist ein sozialpsychologisches Phänomen, das durch eine informelle Kultur verstärkt wird. Diese "cop culture" lässt sich etwa dort beobachten, wo ein niedersächsischer Beamter die Körperverletzung eines Berliner Beamten beobachtet und ihn trotzdem nicht anzeigt, ein Kameradschaftsgeist, der über die sozial definierte Gruppe hinausgeht.
Können Ermittler für interne Angelegenheiten diese Kultur aufbrechen?
Nein. Meist sitzen die internen Ermittler nicht dauerhaft auf diesem Posten. Für eine Rückkehr in den normalen Dienst wollen sie es sich nicht mit ihren Kollegen verscherzen. Sie werden sowieso schon schief angeschaut: Begriffe wie "Genickschusskommando" oder "Henker" sind keine Seltenheit. Sie können niemals gänzlich unabhängig sein.
Was schlagen Sie vor?
Eine externe Instanz müsste die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft überprüfen.
Aber das wird doch nichts an der informellen Kultur ändern.
Das ist richtig. Aber es ist ein Baustein, der zu einer gesellschaftlichen Zivilisierung der Polizei führen kann. Polizisten, die Übergriffe durch Kollegen nicht dulden möchten, aber unter dem Druck der Gruppe stehen, können sich vertraulich an solch eine Kommission wenden.
Welche Kompetenzen sollte eine externe Instanz haben?
Je mehr, desto besser. Amnesty hat schon im vergangenen Jahr das irische Modell einer eigenständigen Ermittlungskommission ins Gespräch gebracht. Die Beamten könnten beispielsweise Akten einsehen und haben Durchsuchungs- wie Beschlagnahmerechte.
Über zwei Drittel der EU-Länder haben externe Kontrollinstanzen. Warum hinkt Deutschland so hinterher?
Wir haben sehr starke Polizeigewerkschaften. Und auch die christlichen Parteien sind polizeinah. Da verwundert es nicht, dass unabhängige Untersuchungskommissionen oft abgelehnt werden.
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