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Kriegsschauplatz Santiago de Chile

Zwanzig Jahre nach dem Sturz Salvador Allendes schießt die Polizei auf Demonstranten / Zwei Tote und über hundert Verletzte / Präsident Patricio Aylwin weilte im Badeort Viña del Mar  ■ Von Astrid Prange

Rio de Janeiro/Santiago (taz) – Die blutige chilenische Militärdiktatur (1973 bis 1990) feierte am Samstag in Santiago ein Comeback. Genau zwanzig Jahre nach dem gewaltsamen Sturz des chilenischen Staatsoberhauptes Salvador Allende verwandelte sich die Innenstadt in der Nähe des Regierungssitzes La Moneda erneut in einen Kriegsschauplatz. Bei dem Zusammenstoß von Demonstranten und Polizisten kamen zwei Menschen ums Leben, mehr als hundert Menschen wurden verletzt. „Es war wie während der Militärdiktatur, die Polizei schoß willkürlich mit Maschinenpistolen in die Menge“, erklärt die kanadische Beobachterin Isabel Vincent, die beim Protestmarsch zwei Chilenen begleitete, die während der Militärdiktatur in Kanada im Exil gelebt hatten. Um die Demonstranten, vorwiegend Studenten und Angehörige von ermordeten oder verschleppten Regimegegnern, auseinanderzutreiben, setzten die Carabineros außerdem Hubschrauber, Tränengas und Wasserwerfer ein.

Die blutige Konfrontation begann nach einem ökumenischen Gottesdienst zu Ehren der Toten der Militärdiktatur in der Kirche San Ignacio, in unmittelbarer Nähe von La Moneda. Als die Kirchgänger nach dem Gottesdienst auf den Regierungspalast zusteuerten, verstellten Carabineros ihnen den Weg. Um die regelmäßig am Jahrestag des Putsches auftretenden Unruhen zu vermeiden, hatte Präsident Patricio Aylwin Demonstrationen vor dem Regierungssitz verboten. Lediglich Allendes Grab durfte besucht werden.

Priester Ignacio Ortuzar beschuldigte Präsident Aylwin, daß es ihm seit seinem Amtsantritt vor dreieinhalb Jahren nicht gelungen sei, die gespaltende Gesellschaft Chiles auszusöhnen. Aylwin selbst nahm an den Veranstaltungen anläßlich des 20jährigen Jahrestages des Militärputsches durch General Augusto Pinochet nicht teil, sondern zog sich in den Badeort Viña del Mar zurück.

Der chilenische Präsident war bereits vor zwei Tagen mit dem Ex-Diktator scharf aneinandergeraten. Pinochet hatte die bis heute „vermißten“ Regimegegner der Diktatur öffentlich als „Banditen“ bezeichnet. Der 77jährige, noch bis 1997 Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte, verteidigt das Ansehen seiner Untergebenen mit allen Mitteln und weigert sich trotz mehrfacher Bitten Aylwins, Informationen über das Schicksal der 2.279 toten und „vermißten“ Regimegegner herauszugeben.

Pinochet ist nach wie vor davon überzeugt, daß er das Andenland vom Kommunismus befreit hat. Seine zahlreichen Anhänger in Chile feiern ihn sogar als „Pionier der Berliner Mauer“, da er den Kommunismus besiegt habe, lange bevor er in Osteuropa zusammengebrochen sei. Auch Kritiker der brutalen Diktatur bescheinigen dem General heute, der Wegbereiter eines „modernen Wirtschaftssystems“ gewesen zu sein.

Beobachterin Isabel Vincent gewann den Eindruck, daß die Mehrheit der Chilenen sich stärker für den Wirtschaftsboom als für die Gedenkfeiern anläßlich des Militärputsches interessiert. Besonders deutlich wurde der Konsumrausch hinter den Anden bei der Einweihung des Shopping-Centers „Las Condes“ in der vergangenen Woche in Santiago: Der glitzernde Konsumtempel zog 8.000 Neugierige in seinen Bann. Zur Demonstration gegen den Militärputsch kamen hingegen nur tausend Einwohner Santiagos.

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