Krieg in der Ukraine: Tulpen auf dem Maidan
Während in Deutschland der Frühling angekommen ist, geht der Krieg in der Ukraine weiter. Unsere Kolumnistin über ein diffuses Gefühl des Zuhauseseins.
W enn ich seit einiger Zeit morgens das Haus verlasse, brauche ich unter meiner Jacke keinen Pulli mehr. Der Frühling ist da in Berlin, endlich. Derweil sehe ich Bilder aus Kyjiw: ein Meer aus roten und gelben Tulpen auf dem Maidan. Straßenmusiker, blauer Himmel. Für einen Moment könnte man vergessen, dass immer noch Krieg ist. Wobei, so ein Satz lässt sich auch nur von meinem Schreibtisch aus im sicheren Berlin schreiben.
Gerade war ein Freund aus Kyjiw in der Stadt. Wir saßen mit einer weiteren Freundin zu dritt in einer Kneipe. Zwischen Bier und Zigarettenrauch platzierte unser Freund die Frage: „Hab ich euch eigentlich schon nach Kyjiw eingeladen?“
Hatte er nicht, aber die Frage saß trotzdem. Denn in ihr steckte der vorsichtige Vorwurf, warum wir bislang nicht da gewesen waren. Wobei, den Vorwurf hörte wahrscheinlich nur ich, weil ich ihn mir selbst schon lange machte und die Antwort auf die Frage, warum ich nicht längst wieder in die Ukraine gefahren war, wo ich doch seit meiner Kindheit jedes Jahr Zeit dort verbringe, über Monate hinweg immer wieder wegschiebe.
Die Stirn meiner Freundin lag plötzlich in Falten. Raketen flogen mal wieder über Charkiw, ihr Cousin saß schutzsuchend im Flur. War es vielleicht die Angst vor russischen Raketen, die mich abhielt?
Sich von Ängsten befreien, um weiterzuleben
Um weiterzuleben, haben die Ukrainer:innen sich von ihren Ängsten befreit. Wie soll man auch sonst die konstante Bedrohung aushalten? In einem Essay in der New York Times beschäftigt sich Timothy Snyder mit der Angst vor einem nuklearen Krieg, die seit der russischen Invasion vor allem im Westen herrscht und zum Teil mitverantwortlich dafür war, dass überlebenswichtige Waffenlieferungen an die Ukraine verzögert wurden. Der Weg nach vorne, schreibt Snyder sinngemäß, sei, sich von seiner eigenen Angst zu befreien. Warum gehen so viele im Westen, warum auch ich diesen Weg nach vorne nicht?
Raketenalarm vorbei, sagte meine Freundin irgendwann. Jetzt werde ihr Cousin Geschirr abwaschen. Ihre Sorgenfalten verschwanden, für den Moment jedenfalls. Ich dachte weiter nach: Wenn ich heute Abend in den Bus steigen würde, könnte ich mit etwas Glück 20 Stunden später in Kyjiw sein. Ich könnte Zeugin werden eines geschichtsträchtigen Augenblicks. Zuhören, später in Deutschland davon erzählen. Ist nicht das unsere Verantwortung?
Vor dem „Tag des Sieges“ oder dem „Tag der Befreiung“, wie die Deutschen ihn gerne nennen, blieb ich an den Zeilen eines ukrainischen Kollegen hängen. „Russland hat alles zerstört, was uns früher verbunden hat“, schrieb er. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai hatte Russland Kyjiw mit Raketen beschossen. Ein Tag, der einmal mahnen sollte, welche Zerstörung Krieg und Faschismus anrichten können, hatte an Bedeutung verloren. Stattdessen setzt Russland heute alles daran, die Erinnerung an die Notwendigkeit von Frieden und Freiheit mit Hass und Gewalt zu überdecken.
Ich hadere seit dem 24. Februar: mit der Sprache, dem Russischen, in der ich einst meine ersten Worte sprach; damit, dass ein diffuses Gefühl des Zuhauseseins, das sich niemals nur auf einen Ort festlegen ließ, sondern sich über eine ganze Region erstreckte, unwiederbringlich auseinandergesprengt wurde; und ich fürchte mich vor den Abgründen, vor dem Trauma, das dieser Krieg noch anrichten wird. Oder in den Worten von Yevgeniy Breyger, der gerade erst seinen Lyrikband „Frieden ohne Krieg“ herausgebracht hat: „es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn / zieht aber andre und ich denk mich nur / denk hin“.
Ein Gefühl der Ohnmacht begleitet mich seit über einem Jahr. Ohnmacht nach einem großen Verlust. Aus ihr heraus führt wahrscheinlich einzig der Weg nach vorne.
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