Kreuzfahrten: Das Schiff ist das Ziel
111 Jahre ist die Kreuzfahrt inzwischen alt. Sind die heutigen Monsterkähne Superlative genialer Ingenieurskunst oder Ausdruck maritimen Irrsinns?
Erwartungen fast vollständig erfüllt", postet Axel und bewertet seine Kreuzfahrt auf der "Costa Concordia" mit der Gesamtnote 2,0. Zwar sei das Schiff "etwas in die Jahre gekommen" und die "Ausstattung sehr bunt" und "eher Geschmackssache", aber die "Kabinen sind immer sauber", "das Essen war wirklich sehr gut", und "die Crew war außerordentlich freundlich".
Axel schreibt das am 12. Januar 2012 im Internetportal www.Kreuzfahrten.de. Der letzte Eintrag, bevor einen Tag später die "Costa Concordia" vor der italienischen Toskanainsel Giglio einen Felsen rammt und kentert. Es war der 13. Januar, ein Freitag.
Ein maritimer GAU. Ein Warnschuss vor den Bug der Traumschiffindustrie. Dieses bizarre Bild wird lange nachwirken: der vor der Küste wie ein Pottwal gestrandete Schiffsgigant, der mit schwerer Schlagseite nun schon seit Wochen regungslos im Wasser liegt. 25 Tote wurden geborgen, 7 Menschen werden noch vermisst. Bergungsmannschaften pumpen jetzt 2.400 Tonnen giftigen Schweröls aus den Tanks des Schiffswracks.
Andreas Lukoschik ist Kenner der maritimen Materie. Der Journalist erklärt in rund 70 amüsanten und lehrreichen Kurzpassagen die Welt der Vergnügungsreise auf See. Schön alphabetisch von A wie Achterdeck über G wie Garderobe, T wie Trinkgeld bis Z wie Zum Schluss.
"Schläft das Personal auch an Bord? Ein Kreuzfahrt-ABC". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 288 S., 16,99 Euro
Stefan Schöner, begeisterter Traumschiffer, hat einen Kreuzfahrt-Thriller geschrieben. Dabei steht das Thema Sicherheit im Zentrum. Die Kreuzfahrt als bombensichere Reiseform? Von wegen! Ein Terrorist ist mit an Bord und macht das Leben der 3.500 Passagiere auf der "Grazia Mare", dem Flaggschiff der Reederei Mare Crociere, zur Hölle.
"T. A. Transatlantik", Westflügel Verlag, Essen 2012, 284 S., 19,90 Euro
Während die Reederei Costa Crociere alle Passagiere mit je 11.000 Euro entschädigen will, reichten 39 Einzelpersonen eine Sammelklage in Miami ein, dem Hauptsitz der Muttergesellschaft der "Concordia"-Reederei, Carnival Cruise Lines, und fordern 400 Millionen Euro Entschädigung und Strafe.
Der schöne Schein der weißen Traumschiffe
Trägt der "Chaos-Kapitän" der "Concordia" mit seinem waghalsigen Grußmanöver die Alleinschuld? Oder sitzt die Reederei unter Umständen doch mit im Anklageboot? Jenseits dieser juristischen Kardinalfrage steht die gesamte Kreuzfahrtbranche auf dem Prüfstand: Im Schlepptau des Giglio-Dramas geht es nicht nur um Sicherheitsstandards, Rettungsmittel und Evakuierungsszenarien, sondern auch um Arbeitsbedingungen, die teilweise ausbeuterischen Niedriglöhne und die Ausbildung des Personals.
Es geht um den schönen Schein der weißen Traumschiffe, die laut Naturschutzbund Deutschland (Nabu) in Wahrheit "dreckige Rußschleudern" seien, weil sie mit billigem giftigem Schweröl fahren und "einen deutlich sichtbaren ökologischen Fußabdruck" hinterlassen. Und es geht um den Ruf einer Freizeitindustrie, die auf Gigantomanie und ständige Expansion setzt, um einen Massenmarkt mit Konkurrenzdruck und Kampfpreisen.
Die Havarie der "Costa Concordia" ist die folgenschwerste Katastrophe der Kreuzfahrtgeschichte - nach dem mythenumrankten Untergang der "Titanic" mit fast 1.500 Todesopfern. Die Vorbereitungen der Gedenkfeiern zum Untergang der "Titanic", die vor 100 Jahren, am 14. April 1912, mit einem Eisberg kollidierte, laufen auf Hochtouren. Höhepunkt wird die Memorial Cruise auf der Azamara Journey über den Nordatlantik sein.
111 Jahre ist die Kreuzfahrt inzwischen alt. Und sie ist eine deutsche Erfindung. Ihr Schöpfer war Albert Ballin, Direktor der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz Hapag. Weil die Passagierdampfschiffe, die im Linienverkehr die Transatlantikroute zwischen Europa und Nordamerika befuhren, im Winter kaum ausgelastet waren, kam Ballin auf die bahnbrechende Idee, das Hapag-Flaggschiff, die erst zwei Jahre alte "Auguste Victoria", für eine exklusive "Bildungs- und Vergnügungsreise" einzusetzen.
Am 22. Januar 1891 gehen 240 Passagiere, darunter Gastgeber Ballin, an Bord. Zwei Monate dampft das elegante Schiff kreuz und quer durchs Mittelmeer, legt für organisierte Landausflüge ein paar Tage in Alexandria (Tour zu den Pyramiden in Kairo), Jaffa, Beirut und Konstantinopel an, sorgt überall für großes Hallo. Eine gelungene Premiere, die Geburtsstunde des Seetourismus: die Kreuzfahrt als maritime Tour fürs reine Vergnügen.
"Excursionen"
Was damals als luxuriöse "Excursion" begann, ist heute zum Funphänomen für Urlaubermassen geworden. Gegenüber der "adeligen" "Auguste Victoria", die mit ihren 240 Gästen gerade mal eine Dorfgemeinschaft hätte beherbergen können, gleichen heutige Megaliner schwimmenden Kleinstädten. Die weltgrößten Ozeanriesen, die fast baugleichen "Oasis of the Seas" und "Allure of the Seas" der US-amerikanischen Reederei Royal Carribean International, können über 6.000 Passagiere aufnehmen. Mithin so viel wie die gesamte Bevölkerung von Ruhpolding in Bayern oder Bispingen in der Lüneburger Heide. Dazu kommen noch einmal rund 2.300 Crewmitglieder.
Immer größer, gewaltiger, aufwendiger werden diese "Vergnügungsparks zur See" (Der Spiegel). Zum Beispiel die milliardenschwere "Allure of the Seas" (Verlockung der Meere): Mit 225 282 Bruttoregistertonnen ist die Tonnage fünfmal so schwer wie die der "Titanic", mit 360 Metern ist sie länger als jeder US-Flugzeugträger und mit 16 Decks so hoch wie 72 Meter hohe Bürotürme.
Es gibt einen Central Park mit 12.000 Bäumen und Sträuchern, eine Kopie der Fußgängerzone von South Beach in Miami, 37 Restaurants und Bars und 24-Stunden-Bespaßung mit einer unvorstellbaren Vielfalt von Freizeit-, Wellness-, Sport- und Unterhaltungsangeboten. Einziger Nachteil: Schönwetterschiffe wie die "Allure" oder die "Oasis" können nur in der Karibik kreuzen. Das Schiff ist das Ziel, so lautet die Philosophie dieser Event- und Spaßschiffe. All inclusive, alles an Bord, shoppen, golfen, tanzen in der Disco. Der Meerblick ist garantiert, der Landgang eigentlich überflüssig.
Die Kreuzfahrtbranche badet im Erfolg. Zweistellige Zuwachsraten von Passagieren und Umsätzen sind seit Jahren die Regel. Laut Cruise Market Watch buchten im vergangenen Jahr weltweit mehr als 19 Millionen Menschen eine Hochseereise. Nach den USA/Kanada und Großbritannien belegt Deutschland mit rund 1,3 Millionen Passagieren Platz drei bei den Kreuzfahrern. Rund 350 Traumschiffe schippern zurzeit auf den Weltmeeren.
Reedereien lassen ständig neue Megaliner vom Stapel, allein im Jahr 2010 kam ein Dutzend neuer schwimmender Hotels mit 27.000 Betten zur Auslieferung. Eine Sättigung des Marktes scheint noch nicht in Sicht. Michael Thamm, Chef von Aida Cruises, dem deutschen Marktführer, verweist auf Studien, nach denen sich 12 Millionen Deutsche eine Kreuzfahrt für sich vorstellen könnten.
"Aldi"-Kreuzfahrt für 449 Euro
Früher war die klassische Kreuzfahrt ein exklusiver Luxus für die betuchte Generation 60 plus. Vor allem Aida Cruises hat das Seniorenimage abgelegt. Den Bug ihrer bisher acht Schiffe ziert ein roter Kussmund, mit dem Konzept Cluburlaub auf See lockt man jüngere Paare und Familien, 42 Jahre ist das Durchschnittsalter an Bord. In der einstigen Hochpreisbranche purzeln die Preise, die Reisen werden als Schnäppchen verhökert.
Wie wäre es mit einer Kreuzfahrt bei dem Discounter Ihres Vertrauens? Kein Problem! Aldi Süd verkauft eine Kreuzfahrt ins westliche Mittelmeer, im Auftrag des Reiseveranstalters Berge & Meer, für 449 Euro. Discounterrivale Lidl tritt ab diesem Jahr gleich selbst als Kreuzfahrtreiseveranstalter auf. Eine zehntägige Karibikkreuzfahrt auf der "Freedom of the Seas" kostet dann bei Lidl-Reisen 1.199 Euro.
Wie verkraftet die Branche die Havarie der "Costa Concordia"? Der Branchenprimus Carnival, der US Konzern, zu dem auch die Costa Crociere Reederei gehört, verzeichnet einen Umsatzrückgang von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der Deutsche ReiseVerband (DRV) hingegen hat keine Hinweise auf eine größere Stornowelle hierzulande.
"Kreuzfahrten werden trotz des tragischen Unglücks weitergehen", prognostiziert eine Sprecherin des DRV und zitiert aus einer Sicherheitsstatistik: "Seit 2005 gab es bei fast 100 Millionen beförderten Kreuzfahrtpassagieren nur 16 Todesfälle zu beklagen." Die Hightechschiffe gelten als praktisch unsinkbar, der Mensch allein bleibt ein Unsicherheitsfaktor. Drei Viertel aller Havarien, heißt es in der Branche, gehen auf menschliches Fehlverhalten zurück.
Wie sehen die Touristentanker von morgen aus? Die Grenze technischer Machbarkeit scheint noch nicht erreicht. Fredrik Johansson, ein schwedischer Schiffdesigner, hat ein 500 Meter langes Schiff am Computer entworfen. Ein solcher Megaliner könnte inmitten reizvoller Archipele ankern und die Passagiere anschließend in kleineren, in seinem Rumpf mitgeführten Jachten oder in Wasserflugzeugen ausbooten und zu den Ausflugszielen bringen. Noch ist das Zukunftsmusik, aber träumen wird die Traumschiffbranche ja dürfen. Zumal die US Navy das Konzept "Schiff im Schiff" bereits umgesetzt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung