Krawalle in London gehen weiter: Funken der Gewalt in der ganzen Stadt
Nach den Unruhen in Tottenham kommt London nicht zur Ruhe: Die Krawalle weiten sich auf andere Viertel aus. Auch am Montagabend wurde wieder gezündelt und geplündert.
LONDON taz | Leonard Agyemang steht zwischen den Scherben der Glastür und der hüfthohen Blechtonne, mit der Jugendliche vergangene Nacht in seinen Handyladen eingebrochen waren. Mit dem Anruf früh am Morgen, der ihn über den Einbruch informierte, hatte er gerechnet.
Denn schon kurz nach Mitternacht in der Nacht zu Montag hat er die Status-Updates von Freunden auf seinem Blackberry gesehen, es gebe Plünderungen in Dalston im Ostlondoner Bezirk Hackney, und dann gab es kurz darauf auch ein Video auf YouTube.
Dort sieht man für 15 Sekunden den aufgebrochenen Seiteneingang des Kingsland Shopping Centres und wie die Feuerwehr ihre Einsatzfahrzeuge über den Vorplatz rangiert. Der Handyladen von Leonard Agyemang ist direkt neben dem Seiteneingang.
Als "unnötigen, opportunistischen Diebstahl" verurteilte der liberale britische Vizepremier Nick Clegg die Ereignisse der Nacht zum Montag, bei der mehrere hundert Jugendliche in verschiedenen Vierteln Londons plündernd durch die Straßen zogen.
Montagabend weiteten sich die Krawalle auf weitere Viertel aus
Und es sieht nicht so aus, als würde sich das Problem so schnell lösen. Auch am Montagabend zogen wieder Jugendliche randalierend durch London: In weiteren Stadtteilen wurden dabei Fahrzeuge und Gebäude in Brand gesetzt.
Südlich der Themse standen im verarmten Viertel Peckham am Montag ein Bürogebäude und ein Bus in Flammen. Über der Stelle stiegen dicke Rauchwolken auf. In der nahegelegenen Gegend Lewisham wurden Autos angezündet und Geschäfte geplündert.
In Hackney im Osten von London verwüsteten dutzende Jugendliche am Montag Geschäfte, plünderten einen Lastwagen und zündeten Autos und Müllcontainer an. Zudem setzten sie geparkte Autos in Brand, bevor die Polizei in Schutzausrüstung sie zurücktreiben konnte. Polizisten wurden mit Feuerwerkskörpern, Holzstücken und anderen Gegenständen beworfen.
Begonnen hatten die Krawalle am Samstag
Schon am Samstagabend war es in Tottenham zu Kämpfen zwischen Jugendlichen und der Polizei und im weiteren Verlauf der Nacht zu Plünderungen gekommen. Die Unruhen hatten sich am Tod von Mark Duggan, 29, entzündet, der am Donnerstag im Rahmen einer Aktion gegen organisierte Kriminalität von der Polizei bei seiner Verhaftung erschossen worden war.
Nach Angaben der Polizei hatte Duggan aus dem Taxi, in dem er saß, das Feuer eröffnet. Anwohner sowie Freunde Duggans bezweifeln das. Im Funkgerät eines Polizisten blieb ein Schuss stecken, die Patrone sei eine spezielle schwache Munition der Londoner Polizei, berichtet die Tageszeitung Guardian. Als die Demonstrationen in Tottenham in Gewalt umschlugen, brannten mehrere Polizeiwagen, Häuser und ein Doppeldeckerbus.
Am Sonntagabend kam es in weiteren Gegenden zu Plünderungen. Bis zu 200 Jugendliche marodierten am frühen Abend über die Einkaufsstraße in Brixton in Südlondon im Anschluss an ein Reggae-Festival und brachen Handy-, Schuh- und Elektronikläden auf. Schwere Ausschreitungen und Plünderungen begannen kurz darauf in Enfield nördlich von Tottenham. Auch hier waren etwa 200 Jugendliche beteiligt, berichten britische Medien.
Polizei steht schon länger in der Kritik
Nach Angaben der Polizei wurden 35 Polizisten verletzt, die Zahl verletzter Jugendlicher ist nicht bekannt. In anderen Stadtteilen im Norden und im Osten, wie etwa in Dalston, plünderten Gruppen von etwa 30 Jugendlichen Geschäfte. Etwa 50 Jugendliche konnte die Polizei auf Londons Haupteinkaufsstraße am Oxford Circus stoppen.
Man mache also gute Arbeit, sagte der stellvertretende Londoner Bürgermeister Kit Malthouse. Insgesamt 215 Verhaftungen vermeldete die Londoner Polizei bis zum Montagabend.
Doch seit es bei Studentenprotesten im vergangenen Jahr zu Ausschreitungen kam, steht die Londoner Polizei in der Kritik. Im Juli traten auch noch der Londoner Polizeichef und sein Stellvertreter wegen eines Telefonhacking-Skandals zurück.
Weil die meisten Spitzenpolitiker gerade in den Ferien sind, reagiert die Politik nur langsam. Innenministerin Theresa May kündigte gestern an, ihren Urlaub abzubrechen. Gerüchte besagen, dass auch Vizepremier Clegg noch am Nachmittag seinen Spanienurlaub unterbrechen und Tottenham besuchen werde.
Plünderungen hätten nichts mit sozialen Problemen zu tun, betonen Politiker. Doch das steht im starken Kontrast zu der Meinung vieler Londoner, die zwar keine Sympathien für die Plünderungen haben, aber in Perspektivlosigkeit eine Ursache sehen.
Das sieht auch Leonard Agyemang so, der ausgeraubte Handyverkäufer in Dalston: Es seien immer mehr Jugendzentren geschlossen worden und die Jugendlichen hingen gelangweilt an Straßenecken herum, sagt er. "Letzte Nacht wollten die alle einfach nur was mitgehen lassen." (mit afp/dapd)
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