Krankenkasse legt Zahlen vor: Seniorensaufen bis ins Koma
Berliner Alte sind bundesweit die größten Kampftrinker. Perspektivlosigkeit und Isolation lassen sie zur Flasche greifen - bis nur noch eine Entgiftung hilft.
Exzessives Kampftrinken von Jugendlichen ist nicht neu - doch die Alten holen auf. In Berlin und Brandenburg werden immer mehr Menschen zwischen 50 und 60 Jahren wegen Alkoholmissbrauchs in Kliniken eingeliefert, während die Fälle bei Jüngeren stagnierten oder gar zurückgehen. Das ergeben die am Freitag veröffentlichten Zahlen der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK).
In Berlin mussten demnach im vergangenen Jahr 247 DAK-Versicherte dieser Altersgruppe wegen Alkoholmissbrauchs ins Krankenhaus, vor vier Jahren waren es noch 195. Bezogen auf 1.000 Versicherte in dieser Alterskohorte waren es 8,9 Fälle - fast jeder Hundertste also und knapp ein Viertel mehr als 2004. In der Hauptstadt trinken sich Senioren damit bundesweit am häufigsten zum Magenauspumpen und Entgiften in stationäre Behandlung. Brandenburg steht kaum besser da: Zwar mussten in der Mark nur 6,9 ältere Erwachsene pro 1.000 Versicherte in eine Klinik, weil sie zu tief ins Glas geschaut hatten - in den vergangenen vier Jahren ist dieser Wert allerdings um fast 47 Prozent gestiegen.
Für Dagmar Schütze von der Suchtkrankenhilfe "Blaues Kreuz" in Berlin ist Alkohol schon längst kein Jugendphänomen mehr. "Alkoholkonsum etabliert sich oft erst im Alter", erklärt sie. Prinzipiell könnten exzessive alte Trinker in zwei Gruppen eingeteilt werden, so die Expertin.
Bei denen, die schon immer ein Alkoholproblem hatten, ihren problematischen Konsum aber lange geheim halten konnten, entstehe erst ein Leidensdruck, wenn ihr gesamtes soziales System wegbricht. "Irgendwann wenden sich Partner und Familie ab, der Job ist weg und der körperliche Zerfall schreitet voran", sagt Schütze. Das sei oft nach zwanzig bis dreißig Jahren Konsum der Fall. Mit 50 bis 60 "stürzen sie dann richtig ab" und kommen in die Klinik.
Andere Ältere beginnen dagegen erst im Alter, exzessiv zu trinken. Der Verlust der Arbeitsstelle oder der Übergang in die Rente können hierfür ausschlaggebend sein. Perspektivlosigkeit setzt ein. Typische Gründe, im Alter mit Alkoholmissbrauch zu beginnen, sind auch Partnerverlust und der Tod der eigenen Eltern oder gar Kinder. Grundlegend sei dabei immer der Verlust von gesellschaftlichem Ansehen und der persönlichen Würde, bestätigt Dagmar Schütze. "Die Betroffenen denken, ihr Leben hätte keinen Sinn mehr" sagt sie.
Tom Bschor, Leiter der Entgiftungsabteilung vom Jüdischen Krankenhaus Berlin, resümiert: "Bei langjährigem Alkoholkonsum wird ein biologischer Prozess in Gang gesetzt, durch den Alkohol für die Patienten lebensnotwendig wird." Nur so könnten die Betroffenen schlafen und ihre Gefühle regulieren. Im Jüdischen Krankenhaus werden jährlich etwa 800 alkoholisierte Personen behandelt, darunter sind auch viele Menschen über 50 Jahren, so Bschor.
In der Öffentlichkeit treten ältere Komasäufer kaum auf: Sie sitzen zu Hause, ertränken ihr Lebensleid in Schnaps, Bier oder Eierlikör und landen halbtot im Krankenhaus.
Entgegen der weitläufigen Meinung, dass man mit zunehmendem Alter auch mehr Alkohol vertrage, erklärt DAK-Landeschef Herbert Mrotzeck: "Durch den geringeren Flüssigkeitsgehalt im Körper vertragen ältere Menschen weniger." Auch die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen bestätigt das. Die gleiche Menge getrunkenen Alkohols verteilt sich bei alten Erwachsenen auf weniger Körperflüssigkeit und führt zu einem höheren Alkoholpegel. Die Leber braucht länger für den Abbau und die Nerven im Gehirn werden feinfühliger gegenüber Alkohol. In Kombination mit Medikamenten wirkt Alkohol im Alter besonders gefährlich. Somit sind Ältere für Abstürze auf Alkohol anfälliger als junge Menschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken