: Kranke Kassen
Es darf sich umworben fühlen, wer jung und fit ist. Nur die Gesunden bringen den Krankenkassen Gewinne. Auf der Strecke bleiben die Alten, Kranken und Behinderten
Im Schatten der öffentlichen Diskussion um die Kapitalismuskritik wird gerade eine Entscheidung über die Zukunft unseres solidarischen Gesundheitssystems getroffen, die von größter langfristiger Bedeutung ist, weil von ihr abhängt, ob der Wettbewerb der Krankenkassen den Kranken wie bislang Nachteile oder in Zukunft Vorteile bringen wird. Bisher ist es so, dass eine Kasse mit vielen gesunden Mitgliedern geringere Beitragssätze hat als eine Kasse mit vielen Kranken. Da Einkommensschwache im Durchschnitt kränker sind als Einkommensstarke, folgt auch, dass die Kassen der Einkommensschwachen im Durchschnitt höhere Beitragssätze verlangen als die der Einkommensstarken. Die Technikerkrankenkasse etwa hat Versicherte mit höherem Einkommen und einen relativ niedrigen Beitragssatz. Gutverdienende werden im Durchschnitt seltener krank. Bei den AOK und Betriebskrankenkassen in krank machenden Berufen ist es umgekehrt.
Dass Besserverdienende und Gesunde in den gesetzlichen Krankenkassen im Schnitt weniger bezahlen, widerspricht dem Solidarprinzip. Diese Ungerechtigkeit schließt sich nahtlos an die noch ungerechtere Aufteilung des Systems in private Krankenversicherungen für Gutverdienende und Beamte und die gesetzlichen Kassen für den Rest der Bevölkerung an. Weitaus schlimmer sind die Nebenwirkungen für Qualität und Wirtschaftlichkeit unseres Gesundheitssystems. Weil nämlich Kranke für jede Kasse ein finanzielles Risiko bedeuten, müssen Krankenkassen ausgerechnet Kranke vermeiden. Die Krankenkassen müssten eigentlich Gesundenkassen heißen, da sie nur mit gesunden Mitgliedern Gewinne machen und sich daher oft nur um diese sorgen. Gesunde Mitglieder zu gewinnen oder in der Kasse zu halten ist die Quintessenz des deutschen Krankenkassenwettbewerbs.
Alles andere spielt im Vergleich dazu keine Rolle. Da Einkommensschwache im Durchschnitt weniger gesund sind, werden sie als Mitglieder gemieden. Dieses absurde System hat dazu geführt, dass große Krankenkassen im Bereich der Bauindustrie keine neuen Mitglieder werben, derweil sich fast alle Kassen auf die Softwarefirmen stürzen. Keine Krankenkasse wirbt aktiv um Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger oder im Gaststättengewerbe. Keine Kasse spezialisiert sich auf die Versorgung einer Erkrankung, weil sie sonst Mitglieder mit dieser Krankheit anziehen könnte. Eine auf Aids-Patienten spezialisierte Krankenkasse wäre ein Segen für die Betroffenen, weil sich die Kasse mit der Krankheit auskennen würde und von vielen unnötigen Untersuchungen, unerfahrenen Ärzten und enttäuschenden Therapien abraten könnte. Im deutschen Kassenwettbewerb wären die Beitragssätze einer solchen Kasse astronomisch hoch. Die deutschen Krankenkassen müssen daher peinlichst den Eindruck vermeiden, dass sie sich mit der Betreuung irgendeiner Gruppe von Patienten gut auskennen würden. Ausnahmen sind Allergien, weil diese in der Regel bei Einkommensstarken häufiger vorkommen und nicht zu teuer sind, und alternativmedizinische Angebote, weil diese insbesondere von Akademikern und Freiberuflern gewünscht werden. Einige Krankenkassen kämpfen daher energisch mit dem Bundesversicherungsamt um die Erlaubnis, medizinisch überflüssige Leistungen für diese begehrte Kundengruppe anbieten zu dürfen, während sie sich bei der Einführung neuer Verfahren für Krebskranke knauserig geben. In der Öffentlichkeit wird daher zu Recht keiner Krankenkasse irgendeine besondere Kompetenz für eine einzige chronische Erkrankung zugeschrieben. Ein solcher Kompetenzeindruck wäre auf dem Markt für die betroffene Kasse auch tödlich. Wie sinnvoll also ist ein Krankenkassenwettbewerb von 267 Krankenkassen, die Gesunde verwöhnen, Kranke meiden und medizinische Kompetenz verleugnen müssen?
Der Gesetzgeber hat daher bereits 2001 die wichtige Grundsatzentscheidung getroffen, dass ab dem Jahr 2007 neben Alter, Einkommen und Geschlecht auch die Zahl der Kranken einer Krankenkasse im Finanzausgleich der Krankenkassen berücksichtigt werden soll. Eine Kasse mit vielen Aids-Patienten bekäme dann die durchschnittlichen Kosten solcher Patienten gutgeschrieben. Spezialisierte sie sich auf diese Gruppe von Patienten, könnte sie Gewinne machen, wenn ihre Kosten unterm Schnitt der Kosten für Aids-Patienten lägen. Gäbe sie mehr aus, machte sie Verluste. Das gäbe Anreize für Wirtschaftlichkeit und Qualitätsverbesserung.
Erstmals könnten Krankenkassen überhaupt mit der besseren Betreuung von Kranken Gewinne machen. Die Beitragssätze von Kassen mit vielen Kranken würden sinken, die Beitragssätze der Gesundenkassen würden einmalig steigen. Gesunde bezahlten für Kranke, Einkommensschwache für Einkommensstarke. Das Solidarprinzip eben. Insgesamt würde die Qualität der Versorgung deutlich verbessert, der Wettbewerb den Kranken nutzen, die Kosten im Gesundheitssystem würden langfristig sinken können.
Leider wird die Einführung dieses so genannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs zum Jahre 2007 derzeit massiv bekämpft. Die Krankenkassen der Einkommensstarken und Gesunden wehren sich gegen eine entsprechende Rechtsverordnung, die in den nächsten Monaten vorgelegt werden muss. Kassen wie die Techniker- sowie Betriebskrankenkassen mit gesunden Mitgliedern versuchen den Eindruck zu erwecken, der Risikostrukturausgleich wäre nicht nur schlecht für ihre wirtschaftlichen Interessen, sondern für das deutsche Gesundheitssystem insgesamt. Sie argumentieren, dass sie nach der Einführung ihre Beitragssätze erhöhen müssten. Dabei ist aber zu bedenken, dass ohne die Einführung die Beitragssätze der Kassen mit vielen Kranken und Einkommensschwachen erneut steigen würden, und nach der Einführung würde er stattdessen sinken. Dann wäre der Beitragssatz der Technikerkrankenkasse aller Voraussicht nach immer noch niedriger. In einer Zeit, in der ihnen hohe Verwaltungskosten, überzogene Vorstandsgehälter, Bürokratie und zu hohe Beitragssätze vorgeworfen werden, ist allen Krankenkassen zu raten, sich hinter das medizinisch und ethisch gebotene Solidarprinzip zu stellen. Genau die Krankenkassen, die sich jetzt für ihre leicht privilegierte Kundschaft stark machen, verspielen durch ihre Gier die Glaubwürdigkeit des Solidarsystems und sägen am Ast, auf dem sie sitzen. Sie können es den privaten Krankenversicherungen nicht vorwerfen, wenn sie Einkommensschwache, Behinderte und chronisch Kranke erst gar nicht aufnehmen wollen. Hier wird auch die Glaubwürdigkeit jener Parteien geprüft, die sich an der Kapitalismuskritik beteiligt haben. Die Fortschreibung eines Wettbewerbs zulasten der Armen und Kranken, um die niedrigeren Beitragssätze der Ingenieure nicht an die höheren der Arbeiter anpassen zu müssen, wäre mehr als eine symbolische Niederlage. KARL LAUTERBACH